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Informationen & Interpretationen
zu Ingeborg Bachmann


              Hartmut Schönherr

Ingeborg Bachmann -
              Copyright Robert Musil Museum Klagenfurt


SEITENINHALT

Lyrik, Gedichte mit Analysen und Interpretationen: Aufblickend - Abends frag ich meine Mutter - Die Welt ist weit - Wie soll ich mich nennen - Die gestundete Zeit - Ausfahrt - Fall ab, Herz - Früher Mittag - Alle Tage - Das Spiel ist aus - Anrufung des Großen Bären - Mein Vogel - Erklär mir, Liebe - Reklame - Römisches Nachtbild - Unter dem Weinstock - An die Sonne - Strömung - Nach dieser Sintflut - Freies Geleit - Ihr Worte - Keine Delikatessen - Prag Jänner 64 - Böhmen liegt am Meer - Wahrlich - Enigma - Lieder auf der Flucht

Prosa: Das dreißigste Jahr - Simultan - Malina - Das Buch Franza - Heimkehr nach Galicien - Die ägyptische Finsternis - Der gute Gott von Manhattan - Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar

Briefe: Briefe an Felician/Josef Friedrich Perkonig - Kriegstagebuch/Jack Hamesh - Briefwechsel mit Hans Weigel - Herzzeit/Paul Celan - Briefe einer Freundschaft/Hans Werner Henze - "schreib alles was wahr ist auf"/Hans Magnus Enzensberger - Italienische Korrespondenz - Male oscuro/Helmut Schulze - Briefwechsel mit Max Frisch

Biographie, Personen, Themen, Orte, Motive: Biographie - Männer - Frauen - Geschwister - Paul Feyerabend - Ludwig Wittgenstein - Maria Callas - Anselm Kiefer - Krankheiten - Neurose - Legenden - Nachlass - Philosophie - Politik - Musik - Sprachenvielfalt - Europa - Italien - Frankreich - England - Böhmen - Galicien - Wien - Natur bei Bachmann - Wüste - Augen - Geschwisterschaft - Tiere - Sternbilder - Grenzen - Reisen - Rettung


LYRIK  


Quelle:
Ingeborg Bachmann, Werke Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. München: Piper, 2021 (3. Auflage)



Aufblickend *
(1942/43)

Daß ich nach schalem Genusse,

Erniedrigt, bitter und lichtlos

Mich fasse und in mich greife,

Macht mich noch wert.

Ich bin ein Strom

Mit Wellen, die Ufer suchen,

Schattende Büsche im Sand,

Wärmende Strahlen von Sonne,

Wenn auch für einmal nur.

Mein Weg aber ist ohne Erbarmen

Sein Fall drückt mich zum Meer.

Großes, herrliches Meer!

Ich weiß keinen Wunsch auf diesen,

Als strömend mich zu verschütten

In die unendlichste See.

Wie kann ein Begehren,

Süßere Ufer zu grüßen,

Gefangen mich halten,

Wenn ich vom letzten Sinne

Immer noch weiß!



 "Aufblickend" ist einer der ersten bekannten Lyrik-Texte Ingeborg Bachmanns, entstanden 1942/43, also noch in den Kriegsjahren, vier, fünf Jahre nach dem "Anschluss" Österreichs.

Im Deutschunterricht wird das Gedicht der Naturlyrik zugeordnet. 2016 war es Abitursthema in Baden-Württemberg, zusammen mit Georg Herweghs (1817-1875) Gedicht "Ich kann oft stundenlang am Strome stehen".

Die Bilderwelt ist schlicht und dem Naturzusammenhang entnommen, Strom (=großer Fluß) und Meer/unendlichste See bestimmen sie. Dazu kommen ausgestaltend Wellen, Ufer, Büsche und Sand. Über dem Ganzen steht, "Wenn auch für einmal nur", die Sonne.

Eingefasst sind die Naturbilder durch Ich-Aussagen zu Beginn und am Ende. Das Ich beklagt zu Beginn "schalen Genuss", der es erniedrigt habe, doch es kann zu sich kommen, und damit der Erniedrigung begegnen, Eigenwert bewahren. In der letzten Strophe begegnet uns erneut, mit allgemeineren Bildern, die Gegenüberstellung Genuss-Selbstwert. Für den Genuss stehen nun die "süßeren Ufer", für den Selbstwert das Wissen "vom letzten Sinne".

Verbunden sind die Ich-Aussagen und die Naturbilder über die Gleichsetzung Ich-Fluss: "Ich bin ein Strom", in der fünften Zeile. Und nur in dieser Verbindung wird deutlich angesprochen der Weg des Flusses zum Meer - als ein abschüssiger: "Sein Fall drückt mich zum Meer."

Ein Vergleich mit Herwegh macht darauf aufmerksam, dass Bachmann den Strom/Fluss nicht zum Meer streben lässt, wie dies bei Herwegh wie überwiegend in der deutschsprachigen Lyrik geschieht. Bachman charakterisiert den Weg zum Meer als "Fall". Ein "Fall", der zwar als befreiend erscheint, insbesondere durch die offenkundige Verbindung von "Meer" und "letztem Sinn", der aber deutlich anschließt an die Erniedrigung, die in den ersten Zeilen des Gedichtes angesprochen wird. Was hier als Zwang aufscheint, wird emphatisch gewendet im einzigen Wunsch, "strömend mich zu verschütten/In die unendlichste See".

Schauen wir auf den Titel des Gedichtes, wird diese Spannung noch deutlicher. "Aufblickend" verweist uns der Text auf Erniedrigung und "Fall". Das biblische "Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht" klingt hier an. Als eine Hoffnung, die auch, nur kurz, erscheint in den "wärmenden Strahlen von Sonne". Doch es gebe kein "Erbarmen", sondern nur den "letzten Sinn" der Ausgießung ins Meer.


Abends frag ich meine Mutter
(1948)

Abends frag ich meine Mutter
heimlich nach dem Glockenläuten,
wie ich mir die Tage deuten
und die Nacht bereiten soll.

Tief im Grund verlang ich immer
alles restlos zu erzählen,
in Akkorden auszuwählen,
was an Klängen mich umspielt.

Leise lauschen wir zusammen:
meine Mutter träumt mich wieder,
und sie trifft, wie alte Lieder,
meines Wesens Dur und Moll.



Dieses frühe Gedicht erschien zuerst ohne Titel 1948 in der Zeitschrift "Lynkeus" und dann 1978 in der Werkausgabe des Piper-Verlages Bd. 1 aus dem Nachlass. Es ist bemerkenswert zunächst einmal durch das Bild der Mutter, das im Werk Bachmanns nie an exponierter Stelle erscheint. Auf einen biographischen Kontext verweist Bachmann selbst, wenn sie in einem Brief an die Eltern vom 6. Juli 1948 nach einer Nennung der Mutter schreibt: "ich darf Euch nicht verheimlichen, hab dieser Tage ein Gedicht geschrieben, das von Rechts wegen ihr gehört".

Das Bild der Mutter bleibt in diesem Text auf den ersten Blick konventionell, eher belanglos gestaltet. Mutter und Kind, abends am Bett, in Harmonie. "Lyrik" im romantischen Sinne tritt uns entgegen, Eichendorffs "und die Welt hebt an zu singen" klingt an. Von "alten Liedern" ist die Rede, von "Akkorden", "Dur und Moll".

Zeitlich näher können wir an den Expressionismus und dessen romantisches Erbteil denken, an Georg Trakl besonders, in dessen Lyrik das "Glockenläuten" eine wichtige Rolle spielt und der gleichfalls gehäuft musikalische Bilder wählt. Auch der zweite Motivkomplex, markiert durch "Abends", "Nacht", "träumt", "lauschen" ist von Trakl her vertraut. Doch im Vergleich mit Georg Trakl erscheint Bachmanns Gedicht seltsam ungebrochen, "romantisch" in einem Sinne, der an Kitsch grenzt.

Es sind nur kleine Irritationen, die das Gedicht vom Kitsch abgrenzen. Nicht die Mutter bereitet das Kind zur Nacht vor, das lyrische Ich fragt die Mutter vielmehr, wie es sich "die Nacht bereiten soll". Und die Mutter erzählt keine Gute-Nacht-Geschichte - vielmehr hat das Kind "immer" das Verlangen "alles restlos zu erzählen". Und nicht träumt das Kind von der Mutter, nein, "meine Mutter träumt mich wieder" - als sei das Kind/das Ich nur ein Traum, eine Vorstellung der Mutter, keine wirkliche Person.

Das Gedicht bleibt rätselhaft, zumal wenn wir uns den Zeithorizont vergegenwärtigen. Wir schreiben das Jahr 1948, Bachmann lebt in Wien, beschäftigt sich mit Philosophie und Psychologie, leidet unter depressiven Verstimmungen, in der Stadt ist der gerade beendete Krieg noch allgegenwärtig. Da klingt die letzte Zeile, "meines Wesens Dur und Moll", eskapistisch.

Doch wie hinter einem Schleier erscheinen als denkbare Referenz Trakls Verse "Wenn sich stille der Tag neigt,/Ist ein Gutes und Böses bereitet" aus dem Gedicht "Die Sonne". Bei Trakl finden wir in einem anderen Gedicht "Singende Mütter" ("Gericht"), und der Text "Sebastian im Traum" beginnt mit "Mutter trug das Kindlein im weißen Mond".

Ingeborg Bachmann hat in einem Interview vom 25. November 1964 auf die Frage, "von welchem Dichter fühlen Sie sich am meisten beeinflußt" knapp geantwortet "Von keinem". In einem Interview 20 Tage zuvor hatte sie den Hinweis auf die "Ähnlichkeit einzelner lyrischer Bilder mit Else Lasker-Schüler und Georg Trakl" beschieden mit "Es sind nicht meine Vorbilder". Allerdings fügt sie im Fortgang zur Vorbild-Thematik hinzu: "Mit Trakl ist es vielleicht etwas anderes. Ich meine weniger, daß er ein Vorbild für mich ist, aber daß er aus dem Sprachklima kommt, das sicher auch das meine ist, das österreichische in einem sehr weiten Sinn." ("Wir müssen wahre Sätze finden", 1983, S. 45)

Noch ein weiteres frühes Gedicht, "Beweis zu nichts", veröffentlicht in der ersten Auflage von "Die gestundete Zeit", nennt die Mutter, gleichfalls in der ersten Zeile: "Weißt du, Mutter".



Die Welt ist weit
(1952)

Die Welt ist weit und die Wege von Land zu Land,
und der Orte sind viele, ich habe alle gekannt,
ich habe von allen Türmen Städte gesehen,
die Menschen, die kommen werden und die schon gehen.
Weit waren die Felder von Sonne und Schnee,
zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See.
Und der Mund der Welt war weit und voll Stimmen an meinem Ohr
und schrieb, noch des Nachts, die Gesänge der Vielfalt vor.
Den Wein aus fünf Bechern trank ich in einem Zuge aus,
mein nasses Haar trocknen vier Winde in ihrem wechselnden Haus.

Die Fahrt ist zu Ende,
doch ich bin mit nichts zu Ende gekommen,
jeder Ort hat ein Stück von meinem Lieben genommen,
jedes Licht hat mir ein Aug verbrannt,
in jedem Schatten zerriß mein Gewand.

Die Fahrt ist zu Ende.
Noch bin ich mit jeder Ferne verkettet,
doch kein Vogel hat mich über die Grenzen gerettet,
kein Wasser, das in die Mündung zieht,
treibt mein Gesicht, das nach unten sieht,
treibt meinen Schlaf, der nicht wandern will ...
Ich weiß die Welt näher und still.

Hinter der Welt wird ein Baum stehen
mit Blättern aus Wolken und einer Krone aus Blau.
In seine Rinde aus rotem Sonnenband
schneidet der Wind unser Herz
und kühlt es mit Tau.

Hinter der Welt wird ein Baum stehen,
eine Frucht in den Wipfeln,
mit einer Schale aus Gold.
Laß uns hinübersehen,
wenn sie im Herbst der Zeit
in Gottes Hände rollt!


Die Autorin hat dieses frühe Gedicht in keine der beiden von ihr verantworteten Gedicht-Sammlungen ("Die gestundete Zeit" 1953, "Anrufung des Großen Bären" 1956) übernommen. 1957 wurde der Text von ihr allerdings für eine Hörfunksendung selbst vorgetragen, er war ihr also zweifellos wichtig.

Der Text steckt voller nicht eindeutig aufzulösender kulturgeschichtlicher Anspielungen. Und er ist einer der wenigen Texte Bachmanns, in denen "Gott" angesprochen wird, an herausgehobener Stelle zum Ende.

Der Ton ist auf Rückblick gestimmt. Wir wissen aus den Briefen der Autorin, dass sie 1952 als ein besonders belastendes Jahr empfand. Es war das Jahr der Heirat ihres geliebten Paul Celan mit Gisèle de Lestrange, das Jahr der ersten Begegnung mit der Gruppe 47, ein Jahr hoher beruflicher und privater Anspannung. Und zu jenem Land, das im Jahr darauf zu ihrer zweite Heimat werden sollte, Italien, schreibt sie am 16. September 1952 an Paul Celan: "Das Land macht mich krank". Erwartet hatte sie von einer Italienreise mit der Schwester, "daß sie mich leichter machen wird, daß der Druck der letzten Monate von mir weichen wird". Was nicht eintraf, weshalb sie die Reise vorzeitig abbrach.

Zu Beginn des Gedichtes scheint Goethes "Lynkeus der Türmer" anzuklingen. Doch der "Wein aus fünf Bechern" evoziert einen religiösen Kontext, den fünften Becher des Elijahu auf dem Sedertisch, der verbunden ist mit dem Versprechen des Gelobten Lands "Und ich werde euch bringen in das Land" (Exodus 6,8). Auch die danach genannte Zahl Vier spielt eine prägende Rolle in der Sederfeier, wobei die Nennung von "vier Winde(n) in ihrem wechselnden Haus" auch Motive der Astrologie aufzugreifen scheint.

"Die Fahrt ist zu Ende,/doch ich bin mit nichts zu Ende gekommen", heißt es dann im Anhub der zweiten Strophe. Der mit dem Gedicht markierte Rückblick gilt, so scheint es, einer Zwischenbilanz. Einer Bilanz, die drei Negativa benennt, eine Beraubung des Lieben(s), die Verbrennung der Augen, das  Zerreißen des Gewandes. Ob mit "Lieben" das Abstraktum gemeint ist oder ein konkreter Geliebter, bleibt zunächst unklar.

Auch die dritte Strophe beginnt mit "Die Fahrt ist zu Ende" - und konfrontiert uns mit Bildern des "Wasserleichen"- und "Ophelia"-Themas, das den lyrischen Expressionismus und die Gedichte Bertold Brechts prägte. Allerdings bei Bachmann in Abgrenzung, das lyrische Ich treibt nicht auf dem Wasser, hat sich nicht von der Welt gelöst. Es sei noch "mit jeder Ferne verkettet" - ohne aber "über die Grenzen gerettet" zu sein.

Die letzten beiden Strophen könnten ein Bild der altnordischen Mythologie ansprechen, den Weltenbaum, die Weltenesche Yggdrasil. Doch seine Farben, Blau, Rot und Gold, verweisen uns auf die christliche Ikonografie, auch auf die Farbenwelt des expressionistischen Dichters Georg Trakl, dessen Schreiben zudem mit den Bildern vom "Herbst" und von "Gottes Hände(n)" aufgerufen scheint. Lohnend ist im Kontrast auch der Blick auf Trakls Gedicht "Jahr".

Vor allem aber nennen die beiden letzten Strophen ein "Wir" ("unser Herz", "laß uns hinübersehen") - ein Hinweis darauf, dass dieses rätselhafte "von meinem Lieben" in der zweiten Strophe einen Geliebten meint, der durch die Nennung von Elementen der Sederfeier Züge Paul Celans gewinnt. Paul Celan war 1948 von Wien nach Paris übersiedelt, wo Bachmann ihn 1950 und 1951 besucht hatte - und dem sie 1952 zahlreiche Briefe schrieb, die unbeantwortet blieben. "Lass uns nicht mehr von Dingen sprechen die unwiederbringlich sind, Inge - sie bewirken nur, dass die Wunde wieder aufbricht", schreibt Paul Celan am 16. Februar 1952 aus Paris an Ingeborg Bachmann.

Und so bietet sich eine ganz andere Referenz an für den Baum "hinter der Welt", nämlich die zum Paradiesesbaum. Die Liebenden schauen "hinüber" zu ihm und werden "im Herbst der Zeit" sehen, wie seine goldene Frucht "in Gottes Hände rollt". Vertrieben aus dem Paradies und doch ihm nahe kommend.

Am 27.04.2022 fand in Baden-Württemberg die Deutsch-Abitursprüfung statt. Aufgabe 2, Wahlaufgabe 2 war eine Interpretation dieses Gedichtes. Meine Website "gedichte-werkstatt" verzeichnete an diesem Tag extrem viele Zugriffe.



Wie soll ich mich nennen?
(1952)


Einmal war ich ein Baum und gebunden,
dann entschlüpft ich als Vogel und war frei,
in einen Graben gefesselt gefunden,
entließ mich berstend ein schmutziges Ei.

Wie halt ich mich? Ich habe vergessen,
woher ich komme und wohin ich geh,
ich bin von vielen Leibern besessen,
ein harter Dorn und ein flüchtendes Reh.

Freund bin ich heute den Ahornzweigen,
morgen vergehe ich mich an dem Stamm . . .
Wann begann die Schuld ihren Reigen,
mit dem ich von Samen zu Samen schwamm?

Aber in mir singt noch ein Beginnen
- oder ein Enden – und wehrt meiner Flucht,
ich will dem Pfeil dieser Schuld entrinnen,
der mich in Sandkorn und Wildente sucht.

Vielleicht kann ich mich einmal erkennen,
eine Taube einen rollenden Stein . . .
Ein Wort nur fehlt! Wie soll ich mich nennen,
ohne in anderer Sprache zu sein.


Geht es um Evolution in diesem Gedicht, geht es um Seelenwanderung? Eine Evolution oder Seelenwanderung, die dann auch das Unbelebte umfasst, den "rollenden Stein" der letzten Strophe, dem die Taube beigesellt ist, und das "Sandkorn" der vorletzten, dem die Wildende korrespondiert.

Vögel spielen, wie oft bei Bachmann, eine tragende Rolle in diesem Gedicht. Gleich zu Beginn wird das sprechende Ich als "Vogel" genannt - frisch geschlüpft, nachdem es zuvor Baum gewesen sei. Ist es nun Mensch/Dichterin - oder endet diese eigenwillige Evolution bei den Vögeln? Dies ist kaum anzunehmen, denn in der mittleren Strophe "vergeht sich" das Ich am "Ahornstamm", was eher auf menschliche Gewalttat, Holzfällerarbeit oder Ähnliches verweist und Vögeln kaum anzulasten ist.

Aber der/die da dem Ahornstamm Gewalt antut, war zunächst (als Vogel?) "Freund" der Ahornzweige. Irgendwann auf dem Weg vom Sandkorn über den Vogel zum Menschen kommt die "Schuld" ins Spiel, müssen wir vermuten. Eine Schuld, die aus Freunden Feinde macht, irgendwo auf dem Weg "von Samen zu Samen".

In gängigen Interpretationen wird dieses Gedicht mit seiner Schuldthematik bezogen auf die deutsch-österreichische Schuld im Nationalsozialismus. Bekanntlich war ja auch Bachmanns Vater zunächst Anhänger des nationalsozialistischen Systems. Und der Satz "ich will dem Pfeil dieser Schuld entrinnen" kann für diese Auffassung als Beleg gelten. In seiner Sprache, der Deutschen, vermag das Ich sich nicht zu erkennen, vermag es sich nicht zu nennen. Es fehle ein Wort. Stimmt die gängige Auffassung, so wäre dieses Fehlen entsetzlich. Es müsste doch wohl das Wort "Mensch" sein, das in dieser Entwicklung verloren gegangen ist an die Schuld. Es sei zu finden nur "in anderer Sprache".

Bachmann lässt uns jedoch in diesem Gedicht ratlos, denn zu allgemein und dann auch wieder zu individuell sind die Bilder hier, als dass wir sie überzeugend auf die politisch-historische Schuldthematik beziehen könnten. In der zweiten Strophe entgleitet sich das Ich in "vielen Leibern", die nach der gewählten Symbolik (bekannt etwa von Bachmanns Landsmann Georg Trakl, dessen Sprache sie sich "österreichisch" verbunden fühlte) auch beiden Geschlechtern ("harter Dorn", "flüchtendes Reh") angehören.

Die Autorin hatte das Gedicht nicht zur Veröffentlichung in einer ihrer Sammlungen vorgesehen.



Die gestundete Zeit
(1952/1953)


Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
 
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.
 
Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
 
Es kommen härtere Tage.


1953 erschien der erste Lyrikband Ingeborg Bachmanns, unter dem Titel "Die gestundete Zeit", in der Frankfurter Verlagsanstalt mit dem Herausgeber Alfred Andersch, der gerade 1952 bekannt geworden war durch seinen Lebensbericht "Die Kirschen der Freiheit". Der Lyrikband machte die Autorin mit einem Schlag berühmt und brachte ihr den Lyrik-Preis der Gruppe 47. Im Jahr darauf kam sie im "Spiegel" auf die Titelseite und kurz danach erscheint bei Piper eine um einen Text ergänzte Neuausgabe von "Die gestundete Zeit". Der titelgebende Text erschien zuerst in "Die Neue Zeitung", einem Organ der amerikanischen Besatzung, August 1952.

Der Text, der ihrem ersten Gedichtband den Titel gab, irritiert heute, wo schon die "Posthistoire" Geschichte ist, mehr denn je. Acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges spricht hier jemand von "gestundeter Zeit". Das mag persönlich-privat gemeint sein, liest sich aber wie ein Angriff auf das öffentliche Bewußtsein, das Selbstgefühl des Wiederaufbaus: Achtung, alles was ihr gerade treibt geschieht auf Kredit, alles auf Widerruf, auf Rückruf, alles gestundet, selbst die Zeit! Und dann die Warnung: "Es kommen härtere Tage". Wie bitte? Waren nicht gerade die härtesten Tage der jüngeren Menschheitsgeschichte vergangen? Hat die Autorin Auschwitz und Hiroshima vergessen?

Sicherlich hat sie das nicht, sie war mit dem jüdischen Lyriker Paul Celan eng verbunden, der sie beständig daran erinnerte. Und doch klingt der Text eskapistisch. Keinen Eskapismus ins Wohlbefinden bietet er an, aber im Blick auf die Zeitumstände muss die Frage erlaubt sein, ob er es sich nicht zu gemütlich einrichtet in homöopathisch dosierter Katastrophen-Beschwörung, in wohlklingendem Kassandra-Ton. Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen, das scheint sein Prinzip. Und die ersten Reaktionen auf den Lyrikband bescheinigten ihm auch eine gleichsam heilende Wirkung, sahen einen Gegenentwurf zum schmerzhaften Realismus der sonstigen Gegenwartsliteratur, sprachen von Metaphysik und neuer Mythologie, lobten die unerhörten Bilder.

Lassen wir uns jedoch nicht von den Bildern verführen. Hören wir nur die ersten drei Zeilen. Und nehmen wir sie wörtlich als Botschaft der Nachkriegszeit. Dann steht da schlicht: Aufgepasst, das Grauen ist noch nicht vorbei. Es wird uns begleiten und prägen. Und das hat es, bis hinein ins 21. Jahrhundert. Die eilfertige Rede von einer "Gnade der späten Geburt" verkennt die Traumatisierung auch der Nachkriegsgenerationen, verkennt auch die destruktive diskursprägende Wirkung der Taten, Erlebnisse und Ereignisse des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart.

Den entgegengesetzten Deutungsansatz vertritt Christian Schärf 2002: "Fatal anzunehmen, hier spräche eine Dichterin des Jahres 1953 aus der Mitte ihres Erlebens heraus." Für ihn ergibt sich aus den Bildern "kein Sinn - aber ein Ton". Dies gelte schon gleich zu Beginn für die Bildfolgen "Schuh-Hunde-Fische-Wind" sowie "schnüren-jagen-kaltwerden". Dem möchte ich entgegenhalten, dass der gesamte Bildkomplex der Zeilen 4-7 stringent eine Situation des Aufbruchs aus einer archaisch-subsistent verfassten Existenz am Meer entwirft. Gewiss poetisch überformt und umgeformt, aber selbst in schwierigen Bildern wie dem von den kalten "Eingeweiden der Fische" kann Welthaltigkeit abgelesen werden, das Dörren der Fische, Eingeweide, die den Hunden zum Fraß vorgeworfen werden.

Ob Lupinenöl jemals als Lampenöl verwendet wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch der Text gewinnt auch daraus seine poetische Kraft, dass wir im Leuchten der Lupinen beides lesen können, den Verweis auf Pflanzenöl als vorindustrielles Leuchtmittel ebenso wie die Beschwörung der Schönheit dieser Blumen, deren Gestalt an Flammen erinnert. Bei Eva Strittmatter finden wir 1973 die Verse "Was war so blaß wie die Lupinen,/Die sich wie wild dem Licht zudrehn,/Wie blaue Flammen, die nicht brennen/Und doch so überschnell vergehn?" Näher als Strittmatter steht Bachmann allerdings Paul Celan. In seinem undatierten Gedichtfragment "Wolfsbohne" aus dem Nachlass erscheint "Lupine" (von der Mutter "Wolfsblume" genannt) als jene Blume, die der Mutter "weh" getan habe "in Michailowka, in/der Ukraine, wo/sie mir Vater und Mutter erschlugen". In diesem Text werden "sieben Rosen im Haus" mit dem "Siebenleuchter" des Judentums gleichgestellt.

Bachmann widmete Celan ein Exemplar des Gedichtbandes mit den Worten "Für Paul - getauscht, um getröstet zu sein". Auf Celan verweist auch eine beziehungsreiche Gedichtzeile in einem lesenswerten Zyklus zu Beginn der Sammlung "Anrufung des Großen Bären", überschrieben mit "Von einem Land, einem Fluß und den Seen". Dort heißt es am Ende von Kapitel I (von X): "O Zeit gestundet, Zeit uns überlassen!" Die Situation eines Liebespaares, hier wie dort, in einer temporalen Utopie, einer "Uchronie".

Lektüreempfehlung: Rüdiger Görner, Die Zeit als lyrische Form- und Sinnstruktur bei Ingeborg Bachmann und Heinz Piontek, in: Sprachkunst, Jahrgang XVI/1985, 1. Halbband



Ausfahrt
(1952/1953)


Vom Lande steigt Rauch auf.
Die kleine Fischerhütte behalt im Aug,
denn die Sonne wird sinken,
ehe du zehn Meilen zurückgelegt hast.
 
Das dunkle Wasser, tausendäugig,
schlägt die Wimper von weisser Gischt auf,
um dich anzusehen, gross und lang,
dreissig Tage lang.
 
Auch wenn das Schiff hart stampft,
und einen unsicheren Schritt tut,
steh ruhig auf Deck.
 
An den Tischen essen sie jetzt
den geräucherten Fisch;
dann werden die Männer hinknien
und die Netze flicken,
aber nachts wird geschlafen,
eine Stunde oder zwei Stunden,
und ihre Hände werden weich sein,
frei von Salz und Öl,
weich wie das Brot des Traumes,
von dem sie brechen.

Die erste Welle der Nacht schlägt ans Ufer,
die zweite erreicht schon dich.
Aber wenn du scharf hinüberschaust,
kannst du den Baum noch sehen,
der trotzig den Arm hebt
- einen hat ihm der Wind schon abgeschlagen
- und du denkst: wie lange noch,
wie lange noch
wird das krumme Holz den Wettern standhalten?
Vom Land ist nichts mehr zu sehen.
Du hättest dich mit einer Hand in die Sandbank krallen
oder mit einer Locke an die Klippen heften sollen.
 
In die Muscheln blasend, gleiten die Ungeheuer des Meers
auf die Rücken der Wellen, sie reiten und schlagen
mit blanken Säbeln die Tage in Stücke, eine rote Spur
bleibt im Wasser, dort legt dich der Schlaf hin,
auf den Rest deiner Stunden,
und dir schwinden die Sinne.
 
Da ist etwas mit den Tauen geschehen,
man ruft dich, und du bist froh,
dass man dich braucht. Das Beste
ist die Arbeit auf den Schiffen,
die weithin fahren,
das Tauknüpfen, das Wasserschöpfen,
das Wändedichten und das Hüten der Fracht.
Das Beste ist, müde zu sein und am Abend
hinzufallen. Das Beste ist, am Morgen,
mit dem ersten Licht, hell zu werden,
gegen den unverrückbaren Himmel zu stehen,
der ungangbaren Wasser nicht zu achten,
und das Schiff über die Wellen zu heben,
auf das immerwiederkehrende Sonnenufer zu.


"Ausfahrt" ist der erste Text der Sammlung "Die gestundete Zeit" und war erster Text des 1952 in Weigels Jahrbuch "Stimmen der Gegenwart" veröffentlichten Zyklus "Ausfahrt". Er lädt uns ein auf eine Reise, auf der wir die Herkunft "im Aug" behalten sollen: eine kleine Fischerhütte. Wir schreiben zur Erstveröffentlichung des Gedichtes als Teil des Zyklus "Ausfahrt" in "Stimmen der Gegenwart" das Jahr 1952, der Zweite Weltkrieg liegt sieben Jahre zurück, die Nennung einer kleinen Fischerhütte erscheint da wie die Flucht aus den Trümmern der Städte in eine archaisierende Idyllik. Doch Ähnliches kennen wir bereits aus dem Expressionismus, insbesondere von Georg Trakl, in dessen Gedichten Fischer und Hirten einen festen Platz einnehmen.

In der indischen Mythologie gibt es den Urmenschen Purusha, der in der Urflut lebte. In der Rigveda hat er tausend Köpfe, tausend Augen und tausend Füße (Rigveda 10,90). Bei der Teilung Purushas zur Weltschöpfung wurde aus dem Auge (dann im Singular) Purushas die Sonne. Wenn die letzte Gedichtzeile den Sonnenaufgang als "Sonnenufer" entwirft, klingt dieser Bezug durchaus an, wenn wir die enge Beziehung berücksichtigen, die bei Bachmann Sonne und Auge haben (vgl. etwa das Gedicht "An die Sonne"). Allerdings gibt es keine Belege, dass die Autorin sich mit indischer Mythologie beschäftigt habe.

Geschildert wird, fast im Stil einer Ballade, die Situation der Männer, Fischer, bei der Fangfahrt. Das lyrische Ich, angesprochen als "Du", befindet sich mit auf dem Schiff, steht an Deck und blickt zurück, während die anderen ("sie") essen. In zwei Strophen wird die Befindlichkeit des "Du" entfaltet, der Balladenton ist nun verlassen. Erst in der letzten Strophe wird das "Du" mit einbezogen in das Geschehen auf dem Schiff, "Da ist etwas mit den Tauen geschehen", seine Kompetenz im "Tauknüpfen" scheint gefragt. Noch mehr vermag es, in den letzten beiden Zeilen ist die Rede davon: "das Schiff über die Wellen zu heben, auf das immerwiederkehrende Sonnenufer zu". Ein Vermögen, das wohl nur Dichtern und Dichterinnen eignet.



Fall ab, Herz
(1952/1953)

Fall ab, Herz, vom Baum der Zeit,
fallt, ihr Blätter, aus den erkalteten Ästen,
die einst die Sonne umarmt’,
fallt, wie Tränen fallen aus dem geweiteten Aug!

Fliegt noch die Locke taglang im Wind
um des Landgotts gebräunte Stirn,
unter dem Hemd preßt die Faust
schon die klaffende Wunde.

Drum sei hart, wenn der zarte Rücken der Wolken
sich dir einmal noch beugt,
nimm es für nichts, wenn der Hymettos die Waben
noch einmal dir füllt.

Denn wenig gilt dem Landmann ein Halm in der
Dürre,
wenig ein Sommer vor unserem großen Geschlecht.

Und was bezeugt schon dein Herz?
Zwischen gestern und morgen schwingt es,
lautlos und fremd,
und was es schlägt,
ist schon sein Fall aus der Zeit.



Der Text erschien zuerst, ohne Titel, im Hörfunk, in einer Aufnahme des NWDR Hannover vom 04. Juni 1952.

Es ist Herbst, von den Bäumen fallen die Blätter - und mit ihnen fällt ein Herz. Nein, es soll fallen, der Titel spricht im Imperativ. Soll fallen wie die Tränen "aus dem geweiteten Aug". Fallen wie der "Landgott" an seiner "klaffende(n) Wunde". Die Gefallenen des gerade vergangenen Krieges stehen in der Kulisse dieses Gedichtes.

Die vermeintliche Idylle der zweiten Strophe von "Locke" und "gebräunte(r) Stirn" täuscht also, unter dem Hemd des "Landgotts" klafft die Wunde. Saturn ist wohl gemeint, alter Gott des Landbaus bei Vergil, Gott des Goldenen Zeitalters. Die dritte Strophe warnt davor, weich zu werden unter dem "zarte(n) Rücken der Wolken", ein neues Goldenes Zeitalter gefüllter Honigwaben zu erwarten. Ein Halm im dürren Acker vermag nicht zu nähren, auch der bei Hölderlin "zuletzt" noch (mit dem Taygetos) blühende "Hymettos" (in "Die Wanderung") bringt nicht Honig genug in der Not.

Der "Landmann" zitiert Hölderlins Gedicht "Wie wenn am Feiertage", wo das "wie" auf einen Vergleich Dichter-Landmann abzielt. Auch bei Bachmann dürfen wir annehmen, dass hinter "Herz", einem Bild, dem "Landgott" und "Landmann" assoziiert sind, das dichterische Sprechen/Schreiben aufscheint.

Hölderlin kann uns auch klären, worauf das "große() Geschlecht" bei Bachmann verweist. Heißt es bei ihm doch in "Die Wanderung": "Die Eltern einst, das deutsche Geschlecht/Still fortgezogen von Wellen der Donau", die, angekommen "am Sommertage", mit den "Kindern der Sonn" den "Schatten" suchten, den bei Bachmann der "zarte Rücken der Wolken" verspricht. Der hymnische Ton Bachmanns schließt Ironie hier aus, auch wenn ein ungebrochener Bezug zu Hölderlins "Vaterländischen Gesängen", zu denen "Die Wanderung" gehört, acht Jahre nach dem Ende eines desaströsen politischen Systems, das diese Gesänge zu vereinnahmen suchte, gewagt ist.

Doch so wenig Hölderlins "Vaterland" chauvinistisch zu verstehen ist, so wenig ist auch Bachmanns steter, hier resignativ anklingender, Bezug auf ein "großes Geschlecht" reaktionär zu verstehen. Ihr "großes Geschlecht" verweist, wie das "deutsche Geschlecht" Hölderlins, auf das "chryseon genos", das "goldene Geschlecht" Hesiods. "(A)us der Zeit" fällt das Herz dieses Gedichtes mit seinen Träumen von einem Sonnenland ohne Grenzen, auch ohne Sprach-Grenzen. "Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein" heißt es einige Jahre später im Gedicht "An die Sonne" (in "Anrufung des Großen Bären").

"(A)us der Zeit" fällt das Herz in diesem Text, es schlägt keine Stunde, sondern die Nicht-Zeit der Utopie.



Früher Mittag
(1953)

Still grünt die Linde im eröffneten Sommer,
weit aus den Städten gerückt, flirrt
der mattglänzende Tagmond. Schon ist Mittag,
schon regt sich im Brunnen der Strahl,
schon hebt sich unter den Scherben
des Märchenvogels geschundener Flügel,
und die vom Steinwurf entstellte Hand
sinkt ins erwachende Korn.

Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,
sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß
und reicht dir die Schüssel des Herzens.

Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel.

Sieben Jahre später
fällt es dir wieder ein,
am Brunnen vor dem Tore,
blick nicht zu tief hinein,
die Augen gehen dir über.

Sieben Jahre später,
in einem Totenhaus,
trinken die Henker von gestern
den goldenen Becher aus.
Die Augen täten dir sinken.

Schon ist Mittag, in der Asche
krümmt sich das Eisen, auf den Dorn
ist die Fahne gehißt, und auf den Felsen
uralten Traums bleibt fortan
der Adler geschmiedet.

Nur die Hoffnung kauert erblindet im Licht.

Lös ihr die Fessel, führ sie
die Halde herab, leg ihr
die Hand auf das Aug, daß sie
kein Schatten versengt!

Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt,
sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen,
?eh sie der Sommer im schütteren Regen vernimmt.

Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land:
schon ist Mittag.


Der Text beginnt mit dem Bild eines Baumes, der im deutschsprachigen Kulturraum eine besondere Bedeutung besitzt, der Linde. Das bekannte Volkslied "Der Lindenbaum" klingt deutlich an mit der Nennung des "Brunnens" in der vierten Zeile. Ausdrücklich genannt wird der heutige Titel des Liedes dann mit der Zeile "am Brunnen vor dem Tore".

"Sieben Jahre später" beginnt die Strophe, in welcher der heutige Liedtitel erscheint. Und wie das Volkslied ist das ganze Gedicht im Rückblick geschrieben. Für die Autorin sind gerade sieben Jahre seit dem Ende des 2. Weltkrieges vergangen. Also ganz wörtlich dürfen wir diese sieben Jahre verstehen - auch wenn es nahe liegt, die Symbolik der Sieben mit zu lesen. Eine Symbolik, die vor allem das Alte Testament prägt. So hat auch die Menora, eines der zentralen Symbole des Judentums, sieben Arme.

"Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt" ist zunächst zu lesen als Verweis auf die Krematorien der Konzentrationslager, auf das "Grab in den Lüften" in der "Todesfuge" Paul Celans. Es ist aber auch zu lesen als ein Bild des "Wirtschaftswunders", der rauchenden Schlote in den Industriegebieten, wo "die Henker von gestern" sieben Jahre später "den goldenen Becher" austrinken, Wohlstand anhäufen mit dem Feuer der Hochöfen. "Sieben Jahre" könnte konkret auf die Zeit nach 1945 bezogen sein, aber auch auf die kulturelle Bedeutung der Zahl 7.

Der den Menschen nach griechischer Mythologie das Feuer brachte, Prometheus, wird indirekt in der Strophe genannt, die den beiden mit "Sieben Jahre später" beginnenden Strophen folgt. In einem sehr gewagten Bild lässt Bachmann nicht Prometheus, sondern den von Zeus zum Strafgericht geschickten Adler (den Bundesadler?) an einen Felsen geschmiedet sein. An den Felsen des "uralten Traums" von menschlicher Souveränität und Macht. Prometheus scheint entfesselt, der Götterbote dagegen gefangen.

Ihm gilt nicht das Mitleid des Gedichtes, sondern der "Hoffnung", die erblindet auf der "Halde" (Industriehalde? Last der Geschichte?) kauert. Sie solle befreit werden und herabgeführt. Wohin? Zu Beginn des Gedichtes heißt es "wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt" in Anspielung auf die Gräuel des Nationalsozialismus. Nun heißt es "wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt", in Anspielung auf die Schwerindustrie.

Und die Hoffnung? Sie scheint verbunden mit dem "Unsäglichen", das "leise gesagt" übers Land geht. Denn eine Wende zeichnet sich ab, die Zeitenwende des Mittags, die in der ersten Strophe schon angekündigt wird in durchgängig positiven Naturbildern. Oder sind das nur die - verratenen - Versprechungen des Volksliedes?




Alle Tage

(1952/1953)

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.


In den ersten beiden Zeilen wird eine Epochengrenze markiert. Krieg werde nicht mehr, "wie bisher" dürfen wir ergänzen, je neu "erklärt", "sondern fortgesetzt". Der Krieg ist immerwährend geworden, der Zweite Weltkrieg nicht beendet, sondern im Kalten Krieg fortgesetzt. 1952, das war das entscheidende Jahr in der Debatte über die Wiederbewaffnung Deutschlands, die "Europäische Verteidigungsgemeinschaft" wurde gegründet mit der BRD im Bunde, in der DDR wurde mit dem Aufbau der NVA begonnen. Der "Schatten ewiger Rüstung" mag als Metapher für einen andauernden, umfassenden Militarismus gelesen werden. Der "Feind" ist, wie die "Rüstung", unsichtbar und allgegenwärtig.

Bachmann schreibt im Kontext des Wahlkampfs für Willy Brandt an Henze am 29./30. August 1965: "Ich glaube, wir haben nur die Richtung zu exekutieren, das ist es, sie anzuzeigen, wir haben ja nur ein kleines metier, ein sehr schönes, freies, und man muss in seinem metier negieren und dann die Richtung geben." Beides unternimmt dieser Text 13 Jahre früher schon, er negiert die Illusion, durch weitere Rüstung Krieg verhindern zu können, negiert gar die Auffassung, in einer Friedenszeit zu leben. Und in der dritten Strophe unternimmt er es, eine Richtung zu geben, die erst Jahrzehnte später von Whistleblowern wie Edward Snowden konsequent eingeschlagen ist, mit dem "Verrat unwürdiger Geheimnisse". Und notwendiger denn je in Zeiten neuer Blockbildungen ist auch "die Tapferkeit vor dem Freund"!

In diesem frühen Gedicht, 1952 im Rundfunk zu Gehör gebracht, 1953 erstmals gedruckt in der Zeitschrift "Morgen" und dann aufgenommen in die Sammlung "Die gestundete Zeit", klingt Brecht an, der lehrstückhafte Ton, der beständige Bruch mit gängigen Auffassungen und Lesererwartungen, die lakonischen Verfremdungen aus "An die Nachgeborenen". Gleichsam militärische Auszeichnungen werden nun verliehen "für die Flucht von den Fahnen" und die "Nichtachtung jeglichen Befehls". Es ist nicht der verrätselnd poetische Ton, der Bachmann dann bekannt und berühmt gemacht hat, es ist ein politischer Ton, der hier früh anklingt und der ihr Werk weiterhin durchzieht, aber wenig rezipiert wurde.


Das Spiel ist aus
(1956)

Mein lieber Bruder, wann bauen wir uns ein Floß
und fahren den Himmel hinunter
Mein lieber Bruder, bald ist die Fracht zu groß
und wir gehen unter.

Mein lieber Bruder, wir zeichnen aufs Papier
viele Länder und Schienen.
Gib acht, vor den schwarzen Linien hier
fliegst du hoch mit den Minen.

Mein lieber Bruder, dann will ich an den Pfahl
gebunden sein und schreien.
Doch du reitest schon aus dem Totental
und wir fliehen zu zweien.

Wach im Zigeunerlager und wach im Wüstenzelt,
es rinnt uns der Sand aus den Haaren,
dein und mein Alter und das Alter der Welt
mißt man nicht mit den Jahren.

Laß dich von listigen Raben, von klebriger Spinnenhand
und der Feder im Strauch nicht betrügen,
iß und trink auch nicht im Schlaraffenland,
es schäumt Schein in den Pfannen und Krügen.

Nur wer an der goldenen Brücke für die Karfunkelfee
das Wort noch weiß, hat gewonnen.
Ich muß dir sagen, es ist mit dem letzten Schnee
im Garten zerronnen.

Von vielen, vielen Steinen sind unsre Füße so wund.
Einer heilt. Mit dem wollen wir springen,
bis der Kinderkönig, mit dem Schlüssel zu seinem Reich im Mund
uns holt, und wir werden singen:

Es ist eine schöne Zeit, wenn der Dattelkern keimt!
Jeder, der fällt, hat Flügel.
Roter Fingerhut ist’s, der den Armen das Leichentuch säumt,
und dein Herzblatt sinkt auf mein Siegel.

Wir müssen schlafen gehn, Liebster, das Spiel ist aus.
Auf Zehenspitzen. Die weißen Hemden bauschen.
Vater und Mutter sagen, es geistert im Haus,
wenn wir den Atem tauschen.


Mit dem Gedicht "Das Spiel ist aus" eröffnet Bachmann ihren zweiten Lyrikband, "Anrufung des Großen Bären", erschienen bei Piper 1956. Der Titel scheint ein 1943 erschienenes Werk des existentialistischen Philosophen und Schriftstellers Jean Paul Sartre zu zitieren, das 1947 von Jean Delannoy verfilmt wurde. Allerdings finden sich im Text keine eindeutigen Bezüge zu Sartres Werk. Die Erstveröffentlichung datiert auf 1954, in "Jahresring 54. Ein Schnitt durch Literatur und Kunst der Gegenwart".

Gleich im ersten Vers wird "Mein lieber Bruder" angesprochen und in der Bilderwelt des Gedichtes erscheinen Kindheitsthemen, Kinderspiele, Märchenbilder. Eine "Karfunkelfee" wird genannt, deren Bedeutung nur den beiden Geschwistern des Gedichtes, dem "lieben Bruder" und dem lyrischen Ich, bekannt scheint. Beide kannten ein Zauberwort, das sie der "Karfunkelfee" sagen sollten, "an der goldenen Brücke". Doch das Wort sei "mit dem letzten Schnee/im Garten zerronnen".

Der Garten der Kindheit ist verloren, die Kinderspiele sind vergangen, das Geschwisterpaar erscheint in der letzten Strophe geisterhaft in "weißen Hemden", die sich bauschen. Hier könnten wir einen Bezug zur Geisterwelt der Liebenden in Sartres "Das Spiel ist aus" sehen, doch der Bezug ist dürftig. Wer ist der "liebe Bruder", der gleich dreimal genannt wird? Ist hier auch der leibliche Bruder Bachmanns konfiguriert, wird hier, wie bei Georg Trakl in dessen Bild der "Schwester", die auch bisweilen geisterhaft erscheint (etwa in "Traum und Umnachtung"), ein realer Geschwisterinzest angedeutet?

Oder verweist uns dies "Bruder" auf Paul Celan, wie es der Vers "es rinnt uns der Sand aus den Haaren" andeuten könnte, denken wir an Celans Gedichtsammlung "Der Sand aus den Urnen" von 1948? 1959 schreibt Paul Celan in "Zuversicht": "als gäbe es, weil Stein ist, noch Brüder" - im Bildkontext Bergbau, der bei Bachmann im vorliegenden Gedicht auch gelegentlich aufscheint, mit "Minen" (zumindest im Wort, da hier Sprengminen gemeint scheinen), "Karfunkel", "vielen, vielen Steinen".

Franziska Frei Gerlach schreibt mit Blick auf "Das Spiel ist aus" und im besonderen auf das Franza-Fragment von der "Dekonstruktion des Geschwistermythos" bei Bachmann (Frei Gerlach 2000, S. 183). Dabei meint sie den mit dem Isis-Osiris-Kult begründeten Mythos, den Bachmann über Musils Geschwisterthematik im "Mann ohne Eigenschaften" rezipierte. Wir sollten uns daher doppelt vor schlichten "Klärungen" dessen,  wer biographisch hinter dem hier skizzierten Geschwisterverhältnis stehen könnte, hüten.

"Das Spiel ist aus" zählt zu den rätselhaftesten Gedichten der Autorin. Dekonstruiert wird hier nicht nur der Geschwistermythos, sondern auch die Literaturform Gedicht. Bisweilen knapp am Nonsense operierend mutet die Autorin den Lesern zu, "das Spiel ist aus" auch auf das Spiel der Lyra zu beziehen, auf die dem Gesang entsprungene Literaturform der Lyrik. Im Mai 1968 wird Bachmann im Entwurf zu einem Brief an Hans Magnus Enzensberger schreiben: "An die ganze Gedichtschreiberei glaube ich sowieso nicht".

Was bleibt ist der Atemtausch. Zu Anfang der  - biblischen - Menschwerdung haucht Gott, das gehört zum kulturellen Bestand, seinen Lieblingsgeschöpfen den Atem ein. Wenn hier zwei ihren Atem tauschen, wird eine neue Menschwerdung angedeutet, 'im Ernst', denn "das Spiel ist aus". Sartres "Das Spiel ist aus" endet mit: "Drüben aber, auf der verlassenen Tanzfläche, umfassen sich die beiden Jungen und beginnen zu tanzen, um das Leben neu zu beginnen ..."



Anrufung des Großen Bären
(1955/1956)

Großer Bär, komm herab zottige Nacht,
Wolkenpelztier mit den alten Augen,
Sternenaugen,
durch das Dickicht brechen schimmernd
deine Pfoten mit den Krallen,
Sternenkrallen,
wachsam halten wir die Herden,
doch gebannt von dir, und mißtrauen
deinen müden Flanken und den scharfen
halbentblößten Zähnen,
alter Bär.

Ein Zapfen: eure Welt.
Ihr: die Schuppen dran.
Ich treib sie roll sie
von den Tannen im Anfang
zu den Tannen am Ende,
schnaub sie an, prüf sie im Maul
und pack zu mit den Tatzen.

Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht!
Zahlt in den Klingelbeutel und gebt
dem blinden Mann ein gutes Wort,
daß er den Bären an der Leine hält.
Und würzt die Lämmer gut.

s' könnt sein, daß dieser Bär
sich losreißt, nicht mehr droht
und alle Zapfen jagt, die von den Tannen
gefallen sind, den großen, geflügelten,
die aus dem Paradiese stürzten.


In der zweiten Lyriksammlung Ingeborg Bachmanns nimmt das Gedicht "Anrufung des Großen Bären" eine besonders markierte Stellung ein. Nicht nur als titelgebend, sondern auch in seinem mythisch-religiösen Grundton, der die Sammlung durchzieht. Erschienen ist das Gedicht erstmals 1955 in "Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken", Jg. 9, Heft 1.

Der Band "Anrufung des Großen Bären" enthält Gedichte der Jahre 1945 bis 1956, gegliedert in vier lediglich nummerierte, nicht überschriebene Blöcke, wobei unser Text die dritte von vier Positionen im ersten Kapitel einnimmt. Die benachbarten Gedichte tragen die Titel "Das Spiel ist aus", "Von einem Land, einem Fluß und den Seen", "Mein Vogel". Das klingt nach Naturlyrik, und Naturbilder begegnen in der Tat in diesen Texten gehäuft, an Tieren erscheinen vor allem Bienen, Vogel/Rabe/Schneehuhn/Amsel/Schwalbe/Eule (meist gebunden an das Bild der Feder), Katze, Hund, Lamm, Pferd/Rappe, Fuchs, Wolf und Bär sowie der generische Plural "Vieh". An Pflanzen treten auf: Roter Fingerhut, Königskerzen, Tollkirschen, Rosen, Schaumkraut, Mais, Kletten, Tannen. Doch diese Naturelemente bleiben Bilder in Seelenlandschaften, Elemente mythologischer Fügungen, schwer zu deuten, im Gehalt fokussiert auf den Menschen.

Unüberhörbar ist in den Texten des ersten Blocks, allen voran "Von einem Land, einem Fluß und den Seen", ein expressionistischer Ton, deutlich klingen Georg Trakls Texte und Motive an, etwa in den Zeilen "Wer jetzt trinkt, trinkt auf schwarze Vogelzüge,/und jede Ferne macht sein Herz verrückt." Im Gedicht "Anrufung des Großen Bären" treten versatzstückartig zentrale Motive des Expressionismus insgesamt auf, die Nacht, ketzerisch gewendete Religionsbilder, brachiale Tierbilder, die Vertreibung aus dem Paradies, die Apokalypse.  

Das Sternbild des "Großen Bären" wird gleich in der Überschrift verknüpft mit einem religiösen Motiv, dem der Anrufung. In der ersten Zeile wird das Sternbild qua satzhaft angebundener Apposition zur "zottigen Nacht" und in der zweiten Zeile zum "Wolkenpelztier". Dann geht es weiter mit den "Sternenaugen" und den "Sternenkrallen", die "durch das Dickicht brechen". Soweit ist das Gedicht noch durchaus verstehbar als phantasievolle Schilderung einer sternklaren, von einzelnen Wolken durchzogenen Nacht, mit dem Sternbild des Großen Bären hinter einem Wald ("Dickicht"). Doch dann werden wir als Beobachter zu Hirten, die ihre Herden mißtrauisch vor dem "alten Bären" zu beschützen suchen, den wir doch gerade herabgerufen haben.

In der zweiten Strophe spricht nun der Bär uns an, er antwortet und klärt auf: Unsere Welt sei ein Zapfen, wir die Schuppen am Zapfen. Und diese Welt wird, seltsam biblisch gestimmt, "von den Tannen im Anfang zu den Tannen am Ende" vom Bären getrieben. Der Bär ist der Weltenherrscher, soviel ist deutlich. Doch unklar bleibt, ob mit dem "sie" der dritten Zeile nicht ein Plural gemeint ist, also mehrere Zapfen/Welten oder die Schuppen.

Und dann werden wir noch mehr ins Unklare geführt in der dritten Strophe. "Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht!" ruft, ja wer eigentlich? Der Bär eher nicht, denn um den geht es dem Rufenden dann, der meint, wir sollten brav "in den Klingelbeutel" zahlen, unseren religiösen Pflichten (welches Kultes auch immer) entsprechen, damit der "blinde Mann" den Bären "an der Leine hält". Der Bär hat einen Herrn, einen Blinden (einen Seher?), der offenkundig Tieropfer schätzt - jedenfalls sollen wir "die Lämmer" gut würzen.

In der fünften Strophe wird zumindest eines bestimmt: Es gibt mehrere Zapfen/Welten. Und der Bär bedroht sie alle, die Welten-Zapfen, die von den "Tannen" fielen, die ihrerseits "aus dem Paradiese stürzten". Hier klingen der gefallene Engel Luzifer und sein Heer an und die Apokalypse. Doch eben: klingen nur an. Der Expressionismus und seine Themen scheinen im ganzen Gedicht nur noch verfügbare Erinnerung, Steinbruch für Bilder, die vorgeführt werden, unverbindlich, halb Spiel, halb Ernst. Oder hören wir in diesem Gedicht etwas wie die Ouvertüre zum Gedichtband, der seinen Titel trägt?



Mein Vogel

(1956)

Was auch geschieht: die verheerte Welt
sinkt in die Dämmerung zurück,
einen Schlaftrunk halten ihr die Wälder bereit,
und vom Turm, den der Wächter verließ,
blicken ruhig und stet die Augen der Eule herab.

Was auch geschieht: du weißt deine Zeit,
mein Vogel, nimmst deinen Schleier
und fliegst durch den Nebel zu mir.

Wir äugen im Dunstkreis, den das Gelichter bewohnt.
Du folgst meinem Wink, stößt hinaus
und wirbelst Gefieder und Fell –

Mein eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe,
mit jener Feder besteckt, meiner einzigen Waffe!
Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder von dir.

Wenn auch im Nadeltanz unterm Baum
die Haut mir brennt
und der hüfthohe Strauch
mich mit würzigen Blättern versucht,
wenn meine Locke züngelt,
sich wiegt und nach Feuchte verzehrt,
stürzt mir der Sterne Schutt
doch genau auf das Haar.

Wenn ich vom Rauch behelmt
wieder weiß, was geschieht,
mein Vogel, mein Beistand des Nachts,
wenn ich befeuert bin in der Nacht,
knistert’s im dunklen Bestand,
und ich schlage den Funken aus mir.

Wenn ich befeuert bleib wie ich bin
und vom Feuer geliebt,
bis das Harz aus den Stämmen tritt,
auf die Wunden träufelt und warm
die Erde verspinnt,
(und wenn du mein Herz auch ausraubst des Nachts,
mein Vogel auf Glauben und mein Vogel auf Treu!)
rückt jene Warte ins Licht,
die du, besänftigt,
in herrlicher Ruhe erfliegst –
was auch geschieht.


Der wenig bekannte Bachmann-Text "Mein Vogel" folgt unmittelbar auf das zumindest vom Titel her weit bekanntere Gedicht "Anrufung des Großen Bären" und beendet den ersten Block der nach diesem benannten Gedichtsammlung. Es erschien gleichfalls zuerst in "Merkur", Jg. 10, Heft 6, Juni 1956.

Vögel und Insekten begegnen im Werk Ingeborg Bachmanns auffallend häufig, geflügelte Wesen also, wie Engel, die bei Bachmann selten erscheinen, etwa in den Gedichten "Früher Mittag" als "enthaupteter Engel" oder in "Die blaue Stunde" als Anrede eines "alten Mannes" an ein "Mädchen".

"Schleier" und "Feder" sind es, die den Vogel dieses Gedichtes charakterisieren, eine Eule. Wir können also an eine Schleiereule denken, allerdings haben sowohl "Schleier" als auch "Feder" in diesem Gedicht einen Gehalt, der weit über die Konkretion in einem Tier hinausgeht, der uns verweist auf kulturgeschichtliche Zusammenhänge, die Eulen in besonderer Weise auszeichnen, als Wappenvogel Athens und der Minerva, mit Weisheit und Philosophie früh verbunden, aber auch mit Todesverkündung. Bei Hegel beginnt die "Eule der Minerva" als Symbol der Philosophie ganz gegen die Symbolwelt der Aufklärung ihren Flug "erst mit der einbrechenden Dämmerung".

Die "Feder" steht konventionell für das Schriftstellertum, das Schreiben. Ohne viel Aufhebens wird sie hier - so scheint es -genau so genommen, "Schleier und Feder von dir". Einziger Schmuck des Ich seien die beiden. Doch in dieser Fügung kann die Feder auch gedacht werden an einem Damenhut mit Schleier. Wir bleiben unsicher. Und dann fällt uns noch ein, dass in "An die Sonne" die Zeile steht "Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier" - den Witwenschleier, den Schleier der unverheirateten Frau, den Schleier der Nonne? Und welches ist der Schleier der Eule?

Die Waffe des lyrischen Ich sei diese Eule, auf seiner Schulter sitzend als "eisgrauer Schultergenoß", wie historisch gelegentlich in Hexendarstellungen zu sehen, bei Bachmann bereit zum Kampf mit dem "Gelichter". Und einige Strophen später weiß das lyrische Ich wieder "was geschieht", gerade wo es "vom Rauch behelmt" ist, also eigentlich in seiner Sicht behindert. Die Korrespondenz von "von Rauch behelmt" und "Schleier" ist evident und klingt wie eine zweite Abrechnung mit Heidegger (nach ihrer Dissertation), für den Wahrheit im "Unverborgen" liege.

Das Gedicht mutet auch an wie eine Abrechnung mit der Aufklärung und ihren Ansprüchen, 'Licht ins Dunkel' zu bringen, wie ein Preislied der Dunkelheit. Einer Dunkelheit, in der allerdings ein Feuer brennt, in der das Ich "Funken" aus sich schlage. Die letzte Strophe konfrontiert uns dann mit dem paradox anmutenden Bild, dass nämlich die Eule "in herrlicher Ruhe" ihre Warte (den Schlafplatz für die Tageszeit?) erfliege, die "ins Licht" gerückt werde durch das (lyrisch, literarisch?) "befeuerte" Ich. Was wird da ins Licht gerückt? Der Schlafplatz der Eule, der Schlaf der Vernunft? In Goyas "El sueño de la razón produce monstruos" sind es Eulen, die dem Schlafenden am nächsten entsteigen.


Erklär mir, Liebe
(1956)

Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,
was soll dir noch geschehen –

Erklär mir, Liebe!

Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad,
die Taube schlägt den Federkragen hoch,
vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,
der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt
das ganze Land, auch im gesetzten Park
hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt.

Der Fisch errötet, überholt den Schwarm
und stürzt durch Grotten ins Korallenbett.
Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion.
Der Käfer riecht die Herrlichste von weit;
hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch,
daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern,
und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!

Erklär mir, Liebe!

Wasser weiß zu reden,
die Welle nimmt die Welle an der Hand,
im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt.
So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!

Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!

Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann:
sollt ich die kurze schauerliche Zeit
nur mit Gedanken Umgang haben und allein
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?
Muß einer denken? Wird er nicht vermißt?

Du sagst: es zählt ein andrer Geist auf ihn ...
Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.


"Erklär mir, Liebe" entstand in Italien, in einer Zeit glücklicher Hochstimmung, als Ingeborg Bachmann mit dem homosexuellen Komponisten Hans Werner Henze zusammenlebte. Das genaue Produktionsdatum ist unbekannt. Erschienen ist der Text zum ersten Mal am 19. Juli 1956, in der Wochenzeitung "Die Zeit". Im gleichen Jahr wurde er publiziert in der Sammlung "Anrufung des großen Bären", im zweiten Block.

Die Autorin war bisweilen, auch ihre Briefzeugnisse künden davon, wirklich glücklich in Italien, bei Henze und ohne ihn, auf Ischia, in Rom, in Neapel. Im September 1953 hatte sie an Paul Celan, mit dem sie eine tief problematische Liebesgeschichte verband, aus Forio/Ischia geschrieben: "Manchmal wünsche ich mir, nie mehr zurück zu müssen nach ›Europa‹".

Und hier nun fragt die Autorin nach "Liebe" - wobei zunächst, der Zeichensetzung zum Trotz, in der Schwebe bleibt, ob sie mit Ihrem Imperativ ("erklär") von einem bestimmten menschlichen Du (gleich angesprochen in "Dein Hut") eine Erklärung zur Liebe möchte oder die Liebe selbst anspricht um Erklärung. Denkbar ist auch, dass "Liebe" eine weibliche geliebte Person meint, im Sinne von "Du Liebe". In den Strophen Fünf und Sechs (die einzelnen refrainartigen Zwischenzeilen nicht gezählt) wird klar: Die Liebe selbst ist angefragt, Gott Amor, den Francesco Petrarca, immer wieder Referenz Bachmanns, in seinem Modell aller europäischen Liebeslyrik, dem "Canzoniere", noch ganz direkt angeredet hat. Das Du dagegen bekommt zu hören: "Erklär mir nichts". Dass es um - auch - sexuelle Liebe geht, wird an den gewählten Bildern aus dem Tier- und Pflanzenreich deutlich. Formal muten diese an wie altväterlicher Aufklärungsunterricht mit Blüte und Biene. Doch zauberhaft leicht kommen sie daher, "Der Käfer riecht die Herrlichste von weit" - schöner ist die Wirkung von Pheromonen sicherlich nie beschrieben worden.

Doch dieser Text will nicht forciert "schön" sein. Er spricht nur im Konjunktiv davon, die "Flügel" fühlen zu können, die unter eines Käfers (der "Herrlichsten") "Panzer" schimmern. Beschönigt wird hier nicht, nur Schönes wahrgenommen, aus der schmerzlichen Distanz zum "gehst an dir zugrund", ein Akkord, angeschlagen gleich in der ersten Strophe. Und dieses "zugrund" ist nicht mit Heidegger gemeint, dem die Dissertation Bachmanns galt, sondern mit Paul Celan. Der schreibt in "Von Dunkel zu Dunkel" 1954: "Du schlugst die Augen auf - ich seh mein Dunkel leben./ Ich seh ihm auf den Grund:/ auch da ists mein und lebt."

Liebe bei den Tieren, bei den Pflanzen, ja gar beim Unbelebten, "die Welle nimmt die Welle an der Hand" und "Ein Stein weiß einen andern zu erweichen". Nur, und da öffnet dieses Gedicht seinen Abgrund, nur unter Menschen, bestimmten Menschen scheint es dies nicht zu geben, da wird in banger Erklärungsnot gefragt "sollt ich die kurze schauerliche Zeit/nur mit Gedanken Umgang haben". Das Du weiß darauf keine Antwort, sein "es zählt ein andrer Geist auf ihn" wird barsch zurückgewiesen: "Erklär mir nichts". Nur ein Tier kann hier zum Vergleich noch dienen: Der Salamander, der "durch jedes Feuer" geht.

Den Zyklus "Lieder auf der Flucht", veröffentlicht in der Sammlung "Anrufung des Großen Bären", stellte Ingeborg Bachmann unter ein Zitat aus den "Trionfi" Francesco Petrarcas, genauer: aus dem "Trionfo d'Amore" III/148ff.

Dura legge d'Amor! ma, ben chè obliqua,
Servar convensi; però ch'ella aggiunge
Di cielo in terra, universale, antiqua.

Das "harte Gesetz" ("dura legge") der Liebe, es prägt auch diesen Text.



Reklame
(1956)


Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille

eintritt


"Reklame", publiziert zuerst in "Jahresringe 56/57", Stuttgart 1956, dann in "Anrufung des Großen Bären", ist eines der bekanntesten Gedichte Ingeborg Bachmanns, das gerne im Deutschunterricht verwendet wird, denn der Text hat ein klares Thema mit Alltagsbezug, eine klare Rhetorik und einen schlichten Aufbau. Sein Thema, die Unangemessenheit von Werbung angesichts der oft von ihr zitierten großen Erzählungen von Glück, Zufriedenheit, Freundschaft, Liebe, Sinngebung, bietet Stoff für vielfältige Diskussionen.

Durch Typographie und Ton ist das Gedicht prägnant gegliedert in zwei Reden, die primäre lyrische Rede, die im elegischen Ton eines Hölderlin ("Weh mir, wo nehm ich, wenn/Es Winter ist, die Blumen" - Beginn von "Hälfte des Lebens") fortschreitet von "Wohin aber gehen wir/wenn es dunkel und wenn es kalt wird" bis "wenn Totenstille//eintritt". Die sekundäre Rede ist die einer gleichfalls pathosgeprägten Werbungssprache mit der Grundbotschaft "ohne sorge sei ohne sorge". Mehrmals verschränken sich die beiden Diskurse, einmal in der fünften Zeile, wo die lyrische Rede mit einem "aber" offenkundig Widerspruch erhebt gegen den trostversprechenden Singsang des "sei ohne sorge". Dann in der 11. und 12. Zeile, wo das verzweifelt klingende "angesichts eines Endes" komplementiert wird durch ein den Sinn wendendes "mit musik". In der 16. Zeile wird die Frage "wohin tragen wir" beantwortet mit "in die Traumwäscherei". Gleich anschließend widerspricht in der 17. Zeile ein "was aber" erneut den Trostverheißungen und in der 18. Zeile setzt der werbende Diskurs diese Einwendung fort mit einem ganz und gar ignoranten "am besten".

Eine merkliche Schwäche des Textes liegt darin, dass er in seiner Kritik der Werbungssprache selbst zu werbender Rhetorik greift. Wenn die "Totenstille" gegen das Werbungsgeplappere gestellt wird, begibt sich der Text auf die Pathosebene des Kritisierten. Noch schwerer wiegt, dass in der Zeile "in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge" die kritische Sprache eindringt auf die Ebene des Kritisierten. Dies wird zwar markiert durch Großschreibung, bleibt aber höchst problematisch. Zur Entlastung wäre vorzubringen, dass die Großschreibung, verbunden mit der Alliteration von "Traumwäscherei" und "Totenstille", die auch auf eine inhaltliche Korrespondenz verweist (bei Homer, in der Ilias, sind Hypnos und Thanatos Zwillingsbrüder), dies zugesteht: dass wir uns dem Kritisierten angleichen im Kritisieren.

In der Forschung wird darauf hingewiesen, dass Ingeborg Bachmann den Text wohl unter dem Eindruck ihrer Amerikareise von 1955 verfasst habe. Das Stipendium für diese Reise hatte der damalige Harvard-Professor Henry Kissinger erwirkt. Weitere Stipendiaten waren Siegfried Unseld, ihr späterer Verleger, und der französische Journalist Pierre Evrard, der Bachmann bis an ihr Lebensende in Rom verbunden blieb.



Römisches Nachtbild
(1956)


Wenn das Schaukelbrett die sieben Hügel
nach oben entführt, gleitet es auch,
von uns beschwert und umschlungen,
ins finstere Wasser,

taucht in den Flußschlamm, bis in unsrem Schoß
die Fische sich sammeln.
Ist die Reihe an uns,
stoßen wir ab.

Es sinken die Hügel,
wir steigen und teilen
jeden Fisch mit der Nacht.

Keiner springt ab.
So gewiß ist’s, daß nur die Liebe
und einer den andern erhöht.


Conrad Ferdinand Meyer hat sich hart abgearbeitet an seinem Dinggedicht "Der römische Brunnen", dessen 7. Fassung von 1882 dann Eingang fand in Schulbücher und Anthologien. In drei Verspaaren wird ein dreischaliger Brunnen beschrieben und im vierten Verspaar die Bilanz gezogen: "Und jede nimmt und gibt zugleich/Und strömt und ruht." Meyers Text basiert auf einem Besuch der Fontana dei Cavalli Marini in der Villa Borghese.

Bachmanns Gedicht "Römisches Nachtbild", erschienen in "Anrufung des Großen Bären", Erstveröffentlichung in "Akzente" Februar 1955, geht aus von einer anderen heiligen Zahl, der Sieben. Die allerdings von ihr mit den sieben Hügeln Roms, damit schon einen Bezug zu Meyer signalisierend, eingeführt wird. Gleich in der ersten Strophe werden dann die gleichen Grundthemen skizziert, die auch das Gedicht Meyers konstituieren: Aufsteigen und Fallen, Wasser und Wechselspiel. Diese Themen werden in den nachfolgenden beiden Strophen ausdifferenziert, zunächst als Entfaltung des Wendepunktes der Bewegung, dann in der dritten Strophe als Parallelität zweier Gegenbewegungen.

Allerdings haben wir bei Bachmann ein klares lyrisches Wir, die Gattung des Dinggedichtes wird nur gestreift. In der ersten Strophe "beschweren" die Personen das "Schaukelbrett". In der zweiten "(i)st die Reihe an uns", aktiv zu werden, und in der dritten "sinken" die Hügel, während "wir" steigen. Das Bild eines schaukelnden Paares auf einer Wippe wird gezeichnet - allerdings sitzen beide auf der gleichen Seite der Wippe, nicht einander gegenüber. Auf der anderen Seite "sitzen" vielmehr "die sieben Hügel".

Die vierte und letzte Strophe scheint dies zu korrigieren. Die Wippe funktioniere nur, wenn keiner abspringe, heißt es hier. Und es heißt auch, dass "einer den andern erhöht". Mit der etwas misslichen Konsequenz, dass die Erhöhung des einen die Erniedrigung des anderen bedeutet. Allerdings wird diese Konsequenz nicht ausgesprochen. Das Gedicht hat eine insgesamt positiv Grundstimmung, denn die Erhöhung ist wechselseitig und Zielpunkt des Gedichtes.

Unüberhörbar ist ein sexueller Unterton des Gedichtes, das ein "Nachtbild" thematisiert und sich nicht graust vor dem "finstere(n) Wasser" und dem "Flußschlamm". Im Schoß des lyrischen Wir sammeln sich Fische, und jeder Fisch wird geteilt "mit der Nacht" - im Aufstieg!



Unter dem Weinstock
(1956)

Unter dem Weinstock im Traubenlicht
reift dein letztes Gesicht.
Die Nacht muß das Blatt wenden.

Die Nacht muß das Blatt wenden
wenn die Schale zerspringt
und aus dem Fruchtfleisch die Sonne dringt.

Die Nacht muß das Blatt wenden,
denn dein erstes Gesicht
steigt in dein Trugbild, gedämmt vom Licht.

Unter dem Weinstock im Traubenstrahl
prägt der Rausch dir ein Mal –
Die Nacht muß das Blatt wenden!



Das Gedicht "Unter dem Weinstock" findet sich gleich nach "Römisches Nachtbild" in der Sammlung "Anrufung des Großen Bären" von 1956, im 3. Block. Erstveröffentlichung in "Jahresringe 55/56". Formal ist es außerordentlich streng gestaltet, vier Strophen mit jeweils drei Zeilen sind reimgebunden durch das Muster aab bcc baa ddb. Darüber hinaus sind die Strophen noch verflochten durch refrainartige Wiederholung der Zeile "Die Nacht muß das Blatt wenden" und die gespiegelte Wiederholung der Wörter "Gesicht" und "-licht/Licht" in den Strophen 1 und 3.

Auch inhaltlich erscheint der Text zunächst eindeutig, bestimmt bereits durch den Gedichttitel. Ein Trunkener/eine Trunkene liegt im Weinberg unter einem Weinstock (ein Motiv, das wir von Georg Trakl kennen). Es ist Nacht oder die Nacht wird erwartet. Der zentrale, vierfach wiederholte Appell "Die Nacht muß das Blatt wenden" ist in der 2. und der 4. Strophe deutlich bezogen auf die Weinernte ("wenn die Schale zerspringt/und aus dem Fruchtfleisch die Sonne dringt") und den "Rausch". Ein alter Topos der Lyrik wird hier zitiert, die Verbindung der Dichtkunst mit Dionysos/Bacchus, dem Weingott der Antike, der Mythos vom trunkenen Seher. Hölderlin nennt in "Brot und Wein" die Dichter "des Weingotts heilige Priester". Und in "Wie wenn am Feiertage" ist der Wein den Dichtern "himmlisches Feuer".

"Die Nacht muß das Blatt wenden" heißt es gleich viermal in diesem Text, eindringlich appellierend. Eine Lebenswende scheint angesprochen, ein Neuanfang. Ob die Nacht auch die Umnachtung der Trunkenheit meint, bleibt offen. Der Nacht entgegen steht das "Traubenlicht", die im Fruchtfleisch der Weintrauben eingefangene Sonne, die beim Keltern, so dürfen wir - nicht zuletzt mit Blick auf Hölderlin - deuten, frei wird als "himmlisches Feuer".

Wer sich diesem Feuer aussetzt, wird gezeichnet, daran läßt das Gedicht keinen Zweifel, ihm/ihr wird ein "Mal" aufgeprägt. Doch erst nach dieser Zeichnung, Kennzeichnung, Auszeichnung kann es zur Wende kommen, die letzte Zeile des Gedichtes bezeugt dies.



An die Sonne
(1956)


Schöner als der beachtliche Mond und sein geadeltes Licht,
Schöner als die Sterne, die berühmten Orden der Nacht,
Viel schöner als der feurige Auftritt eines Kometen
Und zu weit Schönerem berufen als jedes andre Gestirn,
Weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die Sonne.
 
Schöne Sonne, die aufgeht, ihr Werk nicht vergessen hat
Und beendet, am schönsten im Sommer, wenn ein Tag
An den Küsten verdampft und ohne Kraft gespiegelt die Segel
Über dein Aug ziehn, bis du müde wirst und das letzte verkürzt.

Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier,
Du erscheinst mir nicht mehr, und die See und der Sand,
Von Schatten gepeitscht, fliehen unter mein Lid.
 
Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar sorgt,
Dass ich wieder sehe und dass ich dich wiederseh!

Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ...

Nichts Schönres als den Stab im Wasser zu sehn und den Vogel oben,
Der seinen Flug überlegt, und unten die Fische im Schwarm,

Gefärbt, geformt, in die Welt gekommen mit einer Sendung von Licht,
Und den Umkreis zu sehn, das Geviert eines Felds, das Tausendeck meines Lands
Und das Kleid, das du angetan hast. Und dein Kleid, glockig und blau!

Schönes Blau, in dem die Pfauen spazieren und sich verneigen,
Blau der Fernen, der Zonen des Glücks mit den Wettern für mein Gefühl,
Blauer Zufall am Horizont! Und meine begeisterten Augen
Weiten sich wieder und blinken und brennen sich wund.
 
Schöne Sonne, der vom Staub noch die größte Bewundrung gebührt,
Drum werde ich nicht wegen dem Mond und den Sternen und nicht,
Weil die Nacht mit Kometen prahlt und in mir einen Narren sucht,
Sondern deinetwegen und bald endlos und wie um nichts sonst
Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen.


Auf den ersten Blick ein dürftiges Gedicht. Es beendet den Block III in "Anrufung des Großen Bären". Erstveröffentlichung in "Merkur", Jg. 10, Heft 6. Die Auftaktzeilen klingen bemüht in ihrem Preis auf die Sonne im Vergleich: "Schöner als der beachtliche Mond und sein geadeltes Licht,/Schöner als die Sterne, die berühmten Orden der Nacht,". Man möchte wünschen, dies sei als ironische Zitation barocker Muster oder gängiger Mond- und Sterne-Lyrik gedacht. Doch auch wenn die seltsamen Adjektive ("beachtlich", "geadelt", "berühmt") dann verschwinden, der hymnische Grundton geht bruchlos weiter, das ganze Gedicht durch bis zum Pathos-Ende in den letzten Zeilen: "Klage führen über den unabwendbaren Verlust/Meiner Augen."

Schwierig für die unbefangene Lektüre ist es auch, wenn Mond und Sterne, ohne Adjektive, in der letzten Strophe im Dativ erscheinen nach einem "wegen", das hochsprachlich den Genitiv verlangt (der in "deinetwegen" dann auch kommt). Die Texte in der Sammlung "Die gestundete Zeit", die mit Hölderlin und Celan den Genitiv feiern, zwingen uns, ebenso wie das Wissen um Bachmanns harte Arbeit an ihren Texten, hier eine Absicht anzunehmen. Möchte die Autorin mit der umgangssprachlich-österreichischen Dativverwendung unterstreichen, was die Adjektive des Anfangs schon suggerieren - dass wir uns im Bannkreis eines Hymnus mit eigener Gesetzlichkeit befinden, der das Volkstümliche aufzunehmen sucht, nahe bei Hölderlins "Wie wenn am Feiertage ..."?

Wer die Lesung des Gedichtes durch Ingeborg Bachmann vom 19.11.1961 hört (z.B. auf Youtube) und die Blicke Bachmanns dabei wahrnimmt - und weiß, was Ende 1961 im Leben Bachmanns geschah -, wird dieses Gedicht mit anderen Augen lesen. Und er oder sie wird den Gedanken an Ironie in den ersten Zeilen entschieden abweisen. Dieses Gedicht meint es ernst, ernst mit einem der wichtigsten Naturbilder im Werk der Autorin, der Sonne. So ernst, dass Peter von Matt in seiner Deutung des Gedichtes den Vergleich mit dem Gesang der drei Erzengel zu Beginn des "Faust" nicht scheut (Peter von Matt, Die verdächtige Pracht, FAZ 21.06.1997). Dieser Gesang beginnt mit "Die Sonne tönt nach alter Weise/In Brudersphären Wettgesang" und enthält einen Preis der Sonne, der auch für Bachmanns Gedicht geschrieben scheint: "Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke". Ein Anblick, dessen Verlust der Bachmannsche Text in der letzten Zeile als "unabwendbar" benennt - sind wir doch keine Engel. Peter von Matt bietet auch eine überzeugende Erklärung für den eigenartigen Sprachton dieses Gedichtes: "Alle Hymnen, die je an die Sonne gerichtet wurden, sind hier zu einem letzten Hochgesang vereinigt. Deshalb spielt das Gedicht auch so gezielt mit altertümlichen Klängen, mit barocken Reflexen schon im Auftakt."

Der Aufbau des Gedichtes ist einem Sandglas nachempfunden, die Verszahlen der Strophen sind 5-4-3-2-1-2-3-4-5. In vier Komparativen wird die Sonne in der ersten Strophe gefeiert. In der zweiten erscheint dann ein Superlativ, in der dritten und vierten wird die Anspannung zurückgenommen und in der fünften und zentralen Strophe des Gedichtes, einem Einzeiler. Er sagt uns, allerdings mit noch mehr sagenden drei Punkten: "Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ..."

Dieses "Schönre" wird noch einmal aufgegriffen in der folgenden Strophe und nun mit mythologisch anmutenden Bildern unterlegt, dem "Stab im Wasser", dem "Vogel oben,/Der seinen Flug überlegt" und "unten die Fische im Schwarm". In diesem Ton geht es fort, ein Schöpfungsmythos, der auf die Grundelemente der visuellen Wahrnehmung rekurriert, Farbe, Form, Licht. Zur zentralen Farbe wird in der vorletzten Strophe das Blau, das Blau Mariens, das Blau der Romantik, das der Unendlichkeit verbundene Blau der Goetheschen Farbenlehre und das Blau Georg Trakls.

Peter von Matt sieht in diesem Text, bereits markiert durch das "dein und mein Leben" in der fünften Zeile, ein Liebesgedicht verborgen und erinnert an Hölderlins Diotima-Gedichte mit ihren Sonnenbildern. Dies unbenommen meine ich, wir sollten weiter zurückgehen, um einen angemessenen Vergleich zu finden, zum Aton-Hymnus des Echnaton, der hier wie ein fernes Echo anklingt.

Dabei dürfen wir aber nicht verkennen, dass dieses Preislied endet mit der Klage über den "unabwendbaren Verlust meiner Augen". Vergleiche zu diesem Gedicht auch meine Ausführungen zum Thema "Augen" weiter unten.



Strömung
(1957)

So weit im Leben und so nah am Tod,
?daß ich mit niemand darum rechten kann,
?reiß ich mir von der Erde meinen Teil;

dem stillen Ozean stoß ich den grünen Keil?
mitten ins Herz und schwemm mich selber an.

Zinnvögel steigen auf und Zimtgeruch!?
Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein.?
In Rausch und Bläue puppen wir uns ein.



Ein sehr knapper, äußerst rätselhafter Text, von welchem der Literaturkritiker Michael Braun im Deutschlandfunk Lyrikkalender 2009 sagt, er stünde im Umkreis der Italien-Gedichte Bachmanns. "Ozean", "Erde" und "schwemm mich selber an" verweisen auf die Bilderwelt von "Nach dieser Sintflut", die den politischen Ansatz der gemeinsamen Arbeit mit Henze - und damit in der Tat den Umkreis der Italien-Gedichte - reflektiert.

Geht es auch in diesem Gedicht um die politischen Themen der 50er Jahre? Das Ich möchte sich ja "von der Erde meinen Teil" reißen - nicht alles den Machthabenden überlassen, könnten wir ergänzen. Und der "stille Ozean" wird vor diesem Deutungshintergrund zum Schweigen der Mehrheit, das dieses Ich nicht hinnehmen kann. Aber zugleich erklärt das Ich, dass es "so weit im Leben" und "so nah am Tod" sei, dass es mit niemandem um diesen seinen Anteil an der Erde "rechten kann". Das klingt wie ein Verzicht auf politische Auseinandersetzung.

Im 32. Mantra der Rgveda wird geschildert, wie Indra den Drachen/Dämonen Vrtra im Berg tötet mit seinem "Donnerkeil" und damit das Frühjahr einleitet mit Tauwetter, aufbrechendem Eis und Regen. Der "stille Ozean", der mit einem "grünen Keil" in Bewegung gebracht werden kann, klingt damit seltsam verwandt. Eine andere Stelle mit Bezug zu den Veden des Hinduismus findet sich im Gedicht "Ausfahrt". Ich habe allerdings keine Hinweise darauf, dass Bachmann die Veden über das allgemeine Bildungswissen hinaus kannte.

"Rausch und Bläue" - dieser Abschluss zitiert nun allerdings eindeutig Georg Trakl, von dem Bachmann stets erklärte, er habe sie nicht beeinflusst, sie sei ihm lediglich durch den gemeinsamen kulturellen Hintergrund, das "Österreichische", verbunden. Wäre also das "Verpuppen" hier ein "österreichisch" zu lesender Eskapismus? Bekannt ist ja z.B., dass der nicht nur "väterliche" Freund der ersten Wiener Jahre, Hans Weigel, Bachmann 1958 dafür tadelte, sich in der Bundesrepublik politisch zu engagieren - das zieme sich nicht für einen "Gast", zumal nicht für eine "Dame".




Nach dieser Sintflut
(1957)

Nach dieser Sintflut
möchte ich die Taube,
und nichts als die Taube,
noch einmal gerettet sehn.
 
Ich ginge ja unter in diesem Meer!
flög' sie nicht aus,
brächte sie nicht
in letzter Stunde das Blatt.


Eines der kürzesten und wohl das unerbittlichste der Gedichte Ingeborg Bachmanns. Was die erste Strophe sagt, scheint in der Zitation der Noah-Geschichte zugleich deren radikalste Negation. Die Taube, "nichts als die Taube" möchte das lyrische Ich "gerettet sehn". Also keinen weiteren Bewohner der Arche, keines der anderen Tiere und schon gar nicht Noah und die Seinen. Nicht die Menschheit.

Aber dann spricht die zweite Strophe vom "Ich", das sich gerade vom Flug der Taube erwartet, nicht unterzugehen "in diesem Meer". Konjunktivisch wird die Rettung der Taube in Ausflug und Rückkehr beschworen, das Ich "ginge ja unter", "brächte sie nicht/in letzter Stunde das Blatt". In der Sintflut-Geschichte bringt die Taube einen Olivenzweig als Zeichen einer rettenden Küste. Bei Bachmann ist es nur "das Blatt". Welches Blatt? Ein einzelnes Olivenblatt, weil mehr nicht geblieben ist? Das Blatt, das sich wendet - eine politische Umwälzung, weg vom Militarismus? Das leere Blatt für einen Neuanfang?

Im Gedicht "Böhmen liegt am Meer" heißt es 1964: "Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder./Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land." Diese Verbindung von Land und Meer findet im Sintflut-Mythos ihre Begründung. Auch wenn Bachmanns Sintflut-Gedicht vom Land nicht mehr weiß als ein Blatt. Der Verweis auf "Böhmen liegt am Meer" macht deutlich, wie sehr auch "Nach dieser Sintflut" eine individuelle Utopie beschwört und dass wir in "nichts als die Taube" keine Negation der Anderen lesen dürfen. Es geht um die Behauptung des "Ich", seine Rettung in schwieriger Zeit. In einem der Jugendgedichte Bachmanns mit dem Titel "Ich" steht zweimal die Zeile "Ich bin immer Ich". Diese Sicherheit hat Bachmann 1957 nicht mehr, um diese kämpft sie, auch in diesem Gedicht.

Für Ingeborg Bachmann waren die Jahre 1957/1958 eine Zeit ersten politischen Engagements. In einem Brief an Paul Celan von Ende März 1958 beklagt sie "die politische Entwicklung in Deutschland". März/April 1958 protestierte sie gemeinsam mit Henze und Enzensberger in einer Unterschriftenaktion gegen die atomare Bewaffung der Bundesrepublik Deutschland (Bundestagsbeschluss vom 25.03.1958), von Hans Weigel heftig gerügt mit Verweis auf ihren Status als "Dame" und als "Gast" in der Bundesrepublik.

Gemeinsam mit "Freies Geleit" und "Die Strömung" gibt "Nach dieser Sintflut" eine Bestätigung des Bachmannschen Diktums, sie habe nach der Publikation von "Anrufung des Großen Bären" (laut anderer Quellen nach der Publikation von "Das 30. Jahr") nur noch ein Gedicht geschrieben, "Böhmen liegt am Meer". Sie wollte nun eingreifen in das Weltgeschehen mit ihrem Schreiben - und von Gedichten erwartete sie sich das nicht (mehr). Im Mai 1968 schreibt sie im Entwurf zu einem Brief an Hans Magnus Enzensberger: "An die ganze Gedichtschreiberei glaube ich sowieso nicht".

"Nach dieser Sintflut" erschien zuerst in "Botteghe Oscure", Rom, Frühling 1957, dann in einer Hörfunk-Aufnahme des SDR Stuttgart vom 19. Juni 1957.



Freies Geleit
(1957)

Mit schlaftrunkenen Vögeln
und winddurchschossenen Bäumen
steht der Tag auf, und das Meer
leert einen schäumenden Becher auf ihn.

Die Flüsse wallen ans große Wasser,
und das Land legt Liebesversprechen
der reinen Luft in den Mund
mit frischen Blumen.

Die Erde will keinen Rauchpilz tragen,
kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel,
mit Regen und Zornesblitzen abschaffen
die unerhörten Stimmen des Verderbens.

Mit uns will sie die bunten Brüder
und grauen Schwestern erwachen sehn,
den König Fisch, die Hoheit Nachtigall
und den Feuerfürsten Salamander.

Für uns pflanzt sie Korallen ins Meer.
Wäldern befiehlt sie, Ruhe zu halten,
dem Marmor, die schöne Ader zu schwellen,
noch einmal dem Tau, über die Asche zu gehn.

Die Erde will ein freies Geleit ins All
jeden Tag aus der Nacht haben,
daß noch tausend und ein Morgen wird
von der alten Schönheit jungen Gnaden.


Nach der Veröffentlichung von "Anrufung des Großen Bären" 1956 trat Ingeborg Bachmann als Lyrikerin zunehmend zurück. Sie selbst erklärte einmal, sie habe danach nur noch ein Gedicht geschrieben, "Böhmen liegt am Meer". Die Forschung konstatiert allerdings, dass mehr als 20 Gedichte noch geschrieben wurden bis zum Tod der Autorin 1973.

Eine Sonderstellung nimmt unter diesen der Text "Freies Geleit" ein, der trotz seiner zahlreichen Naturbilder den Ton der Sammlung "Anrufung des Großen Bären" weitgehend hinter sich läßt. Die Autorin stimmt hier einen hymnischen Ton an, wie er schon in "An die Sonne" anklingt - doch nun ein einem gänzlich anderen Kontext.

Hölderlins "Wie wenn am Feiertage" steht unverkennbar im Hintergrund, bis hinein in die Bilderwahl. Bei Hölderlin ist es "die Natur", die am Morgen erwacht und sich, vom Regen gereinigt und belebt, dem Dichter zeigt als Heilsversprechen. Bei Bachmann ist es "die Erde". Bei Hölderlin heißt es in der ersten Strophe "In sein Gestade wieder tritt der Strom,/Und frisch der Boden grünt", bei Bachmann "Die Flüsse wallen ans große Wasser,/und das Land legt Liebesversprechen/der reinen Luft in den Mund/mit frischen Blumen".

Hölderlins "Dichter" stehen "unter Gottes Gewittern (...) mit entblößtem Haupt". Ingeborg Bachmanns "Wir" bekundet, die Erde wolle "mit Regen und Zornesblitzen abschaffen/die unerhörten Stimmen des Verderbens", um dann "mit uns" ihre Schönheit zu entfalten, "die bunten Brüder/und grauen Schwestern erwachen sehen". Die "grauen Schwestern" klingt wie eine Kritik an Hölderlin, der nur die "Erdensöhne" nennt, nicht auch die "Töchter". Ganz pragmatisch wäre aber auch daran zu erinnern, dass im Tierreich die Männchen meist bunter, geschmückter sind als die Weibchen.

Mit dem "Rauchpilz" in der dritten Strophe wird vage benannt, was die Schöpfungskraft der Erde/Natur bedroht, Menschenwerk, konkret ein Atomkrieg, "die unerhörten Stimmen des Verderbens". "Freies Geleit" ist das, was Unterlegene von den Machthabern fordern. Es mutet seltsam an, dass "die Erde" bei Bachmann von den Menschen "freies Geleit" einfordert. Angesichts der in den 50er Jahren durchaus gegenwärtigen Drohung, den Planeten mit einem Atomkrieg vollständig zu zerstören, verweist diese abschließende Strophe jedoch auf eine entsetzliche Wirklichkeit, gerade in ihrer naiv anmutenden Bittstellung.

Hans Werner Henze, der geschwisterliche Geliebte jener Jahre, nannte "Freies Geleit" in einem Schreiben an Bachmann vom 29. Mai 1957 "eines der schönsten gedichte der welt". In seiner Autobiographie preist er es als "chorische(n) Hymnus auf eine schöne, atombombenfreie Zukunft".

"Freies Geleit" erschien zuerst in einer Hörfunk-Aufnahme des SDR Stuttgart vom 19. Juni 1957.



Ihr Worte
Für Nelly Sachs, die Freundin, die Dichterin, in Verehrung
(1961)

Ihr Worte, auf, mir nach!,
und sind wir auch schon weiter,
zu weit gegangen, geht's noch einmal
weiter, zu keinem Ende geht's.
Es hellt nicht auf.
Das Wort
wird doch nur
andre Worte nach sich ziehn,
Satz den Satz.
So möchte Welt,
endgültig,
sich aufdrängen,
schon gesagt sein.
Sagt sie nicht.
Worte, mir nach,
daß nicht endgültig wird
- nicht diese Wortbegier
und Spruch auf Widerspruch!
Laßt eine Weile jetzt
keins der Gefühle sprechen,
den Muskel Herz
sich anders üben.
Laßt, sag ich, laßt.
Ins höchste Ohr nicht,
nichts, sag ich, geflüstert,
zum Tod fall dir nichts ein,
laß, und mir nach, nicht mild
noch bitterlich,
nicht trostreich,
ohne Trost
bezeichnend nicht,
so auch nicht zeichenlos -
Und nur nicht dies: das Bild
im Staubgespinst, leeres Geroll
von Silben, Sterbenswörter.
Kein Sterbenswort,
Ihr Worte!



Am 25. Mai 1960 begegnen sich Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Nelly Sachs in Zürich. Später kommt auch Max Frisch dazu, den Bachmann bereits 1958 kennengelernt hatte. Dieser Begegnung verdankt sich die Widmung des Gedichtes.

Die Autorin selbst spricht diesem Gedicht eine Sonderrolle zu, als erstes Gedicht nach einer langen Abkehr vom Gedichteschreiben. In einem Interview von - vermutlich - 1961 erklärt sie: "«Ihr Worte» habe ich geschrieben, nachdem ich mich fünf Jahre lang nicht mehr traute, ein Gedicht zu schreiben, keines mehr schreiben wollte, mir verboten habe, noch so ein Gebilde zu machen, das man Gedicht nennt. Ich habe nichts gegen Gedichte, aber Sie müssen sich denken, dass man plötzlich alles dagegen haben kann, gegen jede Metapher, jeden Klang, jeden Zwang, Worte zusammenrücken zu lassen, gegen dieses absolute glückliche Auftretenlassen von Worten und Bildern."

Es geht in diesem Gedicht zunächst um das Schreiben und die Sprache, wie einige Jahre später im zweiten bedeutsamen Widmungsgedicht der Autorin, an Anna Achmatowa, "Wahrlich". Im Zentrum stehen, hier wie dort, "Worte", markant jeweils auch noch im Singular genannt. Es geht um Worte und deren Unvermögen, "zu Ende" zu kommen. Aber gerade darin liegt ihr Sinn, liegt ihre Kraft im dichterischen Schreiben: Es soll nicht zu Ende kommen, es soll sich dem "Trost" verweigern, es soll nicht schreiben "Sterbenswörter". Dabei müssen wir an die redensartliche Bedeutung von "Sterbenswort" denken in der Wendung "ich sag kein Sterbenswörtchen", die gleichbedeutend ist mit "ich schweige".

Lieber also schweigen, als das Falsche zu sagen? Beschwörend klingen die Worte, mit denen die Autorin vor den falschen Worten warnt, vor dem Sagen - wobei es vor allem zweierlei ist, wozu geschwiegen werden solle, der Tod und der Trost. Der Widmungskontext legt nahe, dass der Tod in den Lagern des Nationalsozialismus und der zugehörig gedachte Trost gemeint seien. Selbst "ins höchste Ohr" sei dazu nichts zu sagen. Ist damit Gott gemeint?

"Kein Sterbenswort" solle gesagt werden - geschwiegen werden müsse zu diesem Sterben, das die Biografien des geliebten Paul Celan und der "Freundin" Nelly Sachs gleichermaßen gezeichnet hat.


Keine Delikatessen
(1963)

Nichts mehr gefällt mir.

Soll ich
eine Metapher ausstaffieren
mit einer Mandelblüte?
Die Syntax kreuzigen
auf einen Lichteffekt?
Wer wird sich den Schädel zerbrechen
über so überflüssige Dinge -

Ich habe ein Einsehen gelernt
mit den Worten,
die da sind
(für die unterste Klasse)

Hunger
             Schande
                            Tränen
und
                                         Finsternis

Mit dem ungereinigten Schluchzen,
mit der Verzweiflung
(und ich verzweifle noch vor Verzweiflung)
über das viele Elend,
den Krankenstand, die Lebenskosten,
werde ich auskommen.

Ich vernachlässige nicht die Schrift,
sondern mich.
Die anderen wissen sich
weißgott
mit den Worten zu helfen.
Ich bin nicht mein Assistent.

Soll ich
einen Gedanken gefangennehmen,
abführen in eine erleuchtete Satzzelle?
Aug und Ohr verköstigen
mit Worthappen erster Güte?
erforschen die Libido eines Vokals,
ermitteln die Liebhaberwerte unserer Konsonanten?

Muß ich
mit dem verhagelten Kopf,
mit dem Schreibkrampf in dieser Hand,
unter dreihundertnächtigem Druck
einreißen das Papier,
wegfegen die angezettelten Wortopern,
vernichtend so: ich du und er sie es

wir ihr?

(Soll doch. Sollen die andern.)

Mein Teil, es soll verloren gehen.



"Keine Delikatessen" gehört zu einer Gruppe von vier Gedichten, die im "Kursbuch" von Hans Magnus Enzensberger, eines guten Freundes der Autorin, veröffentlicht wurden, in Nummer 15, November 1968. Als einziges dieser vier Gedichte war es zuvor noch nicht veröffentlicht worden. Die Reihenfolge im Kursbuch ist: Keine Delikatessen, Enigma, Prag Jänner 64, Böhmen liegt am Meer.

Wie Bachmann in einem nicht abgeschickten Brief an Enzensberger, vermutlich vom Mai 1968, erklärt, wurden die vier Gedichte "vor fünf und vier Jahren geschrieben". Und weiter versichert sie, "es wissen ein paar Leute, dass ich die Sachen alle damals in Berlin geschrieben habe". "Damals in Berlin" verweist auf ein Stipendium der Ford Foundation zu einem einjährigen Berlinaufenthalt, das sie im Frühjahr 1963 erhielt. Der vorliegende Text stammt vermutlich aus dem Jahr 1963.

Der Text beginnt mit dem Programm der Jahre nach der Veröffentlichung von "Anrufung des Großen Bären": Keine Gedichte mehr zu schreiben. "Nichts mehr gefällt mir." So lautet der lakonische Anhub. Nach dem Titel lässt sich vermuten, es ginge um den "ennui" des Symbolismus, den Lebensüberdruß einer überreizten Avantgarde, von der systematischen Verwirrung der Sinne in die Ecke gemalt.

Doch dann geht es weiter mit einer poetologischen Frage, "Soll ich/eine Metapher ausstaffieren/mit einer Mandelblüte?" Das darf gelesen werden als Kritik an tradierter Lyrik, die man "bürgerlich" nennen könnte, mit "Mandelblüte" und "Lichteffekt". Und dann kommt die im Kursbuch nicht, bei Bachmann schon irritierende Wendung zu den Worten "für die unterste Klasse": Hunger, Schande, Tränen, Finsternis. Also mit einem anderen poetologischen Programm, dem der "engagierten" Literatur, wie es im Kursbogen zum Kursbuch 16 von Peter Schneider formuliert wurde in seiner "Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller".

Doch auch dieses Programm ist keines für das Ich des Textes, sein Kopf sei "verhagelt", die Hand im "Schreibkrampf". Und in Klammern gesetzt übergibt es das Tun für das "wir ihr", mit Fragezeichen, weiter: "(Soll doch. Sollen die andern.)"

Hinter das Datum 1963 ist ein Fragezeichen zu setzen. In einem Briefentwurf vom Mai 1967 schreibt Bachmann im Blick auf die vier Gedichte: "Die Sachen sind nicht neu, sondern aus den Jahren 1963 bis 1966." Und in einem Brief an Enzensberger vom Sommer 1966 schreibt sie: "Da läuft noch etwas mit, wie Du weisst, meine Politik-Verstrickung, eine vehemente. Und jetzt, wo ich den Kopf oben habe, fällt mir das grad nicht zusammen, aber ich habe Anfälle, die höchstens für Pointen reichen, und weiss nicht, was dahinter ist. Ich sage mir: bis jetzt war das alles recht und gut, aber ich, ein Mensch mit einem bestimmten Alter, der sollte doch abtreten."

Geschrieben wurde dies wohlgemerkt im Alter von 40 Jahren! Und verständlich wird es nur vor dem Hintergrund der psychischen Zerrüttung der Autorin Anfang der 1960er Jahre und im Kontext des Dramas, das für sie - und Enzensberger - schon der 30. Geburtstag dargestellt hatte. Man lese hierzu die Ausführungen zu "Das dreißigste Jahr".

Für die Gedichte nach 1956, nach dem Erscheinen des Bandes "Anrufung des Großen Bären", gilt in besonderer Weise, was Arturo Larcati 2010 zur Publikation der Gedichten aus dem Nachlass schrieb: "Ingeborg Bachmanns Texte leben von der Spannung, dass sie autobiographisch und zugleich nicht autobiographisch sind." In vielen dieser Gedichte verhandelt die Autorin auch ihre poetologischen Auffassungen, wie wir sie aus den "Frankfurter Vorlesungen" vom Wintersemester 1959/60 kennen.


Lektüreempfehlung: Ingeborg Bachmann, Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung, Piper, 1982


Prag Jänner 64
(1964)

Seit jener Nacht
gehe und spreche ich wieder,
böhmisch klingt es,
als wär ich wieder zuhause,
 
wo zwischen der Moldau, der Donau
und meinem Kindheitsfluß
alles einen Begriff von mir hat.
 
Gehen, schrittweis ist es wiedergekommen,
Sehen, angeblickt, habe ich wieder erlernt.
 
Gebückt noch, blinzelnd,
hing ich am Fenster,
sah die Schattenjahre,
in denen kein Stern
mir in den Mund hing,
sich über den Hügel entfernen.

Über den Hradschin
haben um sechs Uhr morgens
die Schneeschaufler aus der Tatra
mit ihren rissigen Pranken
die Scherben einer Eisdecke gekehrt.
 
Unter den berstenden Blöcken
meines, auch meines Flusses
kam das befreite Wasser hervor.
 
Zu hören bis zum Ural.


Ich geben den Text hier wieder, wie er in der Erstveröffentlichung im Kursbuch 15 vom November 1968, zusammen mit zwei weiteren Gedichten aus der Zeit in Prag und dem zeitlich irgendwo zwischen 1963 und 1967 anzusetzenden Text "Enigma", abgedruckt wurde. In der Handschrift trägt das Gedicht zunächst den Titel "Auferstehung".

Hans Höller und Arturo Larcati gehen in ihrer Publikation "Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag" von 2016 davon aus, dass die drei Prag-Gedichte aus dem Kursbuch zu einem Zyklus von sieben Gedichten gehörten, den Bachmann konzipiert habe, aber dann nicht als solchen publizieren ließ. Im Kursbuch erschienen davon "Prag Jänner 64", "Enigma" und "Böhmen liegt am Meer". Die dem Zyklus nach Höller/Larcati noch zugehörigen Gedichte tragen die Titel "Wenzelsplatz", "Jüdischer Friedhof", "Poliklinik Prag" und "Heimkehr über Prag". Dabei ordnen die Autoren die Gedichte nach der rekonstruierten zeitlichen Abfolge der Reise.

Das Gedicht "Prag Jänner 64" gilt Höller und Larcati als jenes "mit den konkretesten politisch-utopischen Bildern". Natürlich lag der Verdacht nahe, Bachmann habe diese Texte im Blick auf den Prager Frühling 1968 konzipiert. Dem ist allerdings nicht so, das hat Bachmann verschiedentlich versichert, so im Entwurf eines Briefes an Enzensberger, geschrieben vermutlich im Mai 1968: "Ich habe sie alle vor fünf und vier Jahren geschrieben. Wenn Du sie abdrucken möchtest, muss ich das dazu sagen, weil man sonst denkt, ich hätte den Rest wegen heute geschrieben, ich habe aber Zeugen, es wissen ein paar Leute, dass ich die Sachen alle damals in Berlin geschrieben habe."

"Seit jener Nacht",  mit diesem Anhub ergänzt die erste Strophe die Datumsangabe des Titels. Das "Ich" hat seine Sprache wiedergefunden, hat nach Hause zurückgefunden - wenngleich nur im Konjunktiv. Das Ereignis in "jener Nacht" wird nicht benannt, biographisch könnten wir es auf die Begegnung mit Adolf Opel beziehen, doch darf sich das Verständnis des Gedichtes darin nicht erschöpfen. Die Folgen des Ereignisses werden im Gedicht klar benannt: der/die Lahme kann wieder gehen, der/die Stumme wieder sprechen, das Sehen wird "wieder erlernt", die "Schattenjahre" entfernen sich und das Eis der Flüsse bricht, das "befreite Wasser" kommt hervor. Inneres Geschehen wird dabei verbunden mit äußerem, der Hradschin wird erwähnt, auf welchem Schneeräumer arbeiten, das äußere Geschehen wird zum Bild des inneren Prozesses.

Wie weit wir dieses Geschehen auch "politisch-utopisch" verstehen dürfen, bleibt allerdings unklar. Denn die Individualisierung der Erfahrung dominiert. In der ersten Strophe ist vom "Ich" die Rede, in der zweiten von "meinem Kindheitsfluß" und "von mir". Auch in der dritten und vierten Strophe begegnet nur das "Ich". Erst in der fünften kommt eine Öffentlichkeit dazu, für Höller/Larcati werden die "Schneeschaufler aus der Tatra" zu den "handelnden Subjekten eines revolutionären Sozialismus" (Höller/Larcati 2016, S. 122). Und in der Tat, die sechste Strophe mit ihrem betonten "auch meines Flusses" verweist auf eine Allgemeinheit, in der es um Verlust und Rückgewinnung von Autonomie geht.

Die letzte Zeile schließlich macht eindeutig, dass es in diesem Gedicht nicht vorrangig um eine individuelle Erfahrung geht. Und es fällt schwer, anzunehmen, dass diese Zeile nicht erst unter dem Eindruck des Prager Frühlings geschrieben wurde.



Böhmen liegt am Meer
(1964)

Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus.
Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.
Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.

Bin ich's nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.

Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen.
Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.
Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.

Bin ich's, so ist's ein jeder, der ist soviel wie ich.
Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehen.

Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.
Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf.
Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.

Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe
unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser,
und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen

Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal,
wie ich mich irrte und Proben nie bestand,
doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.

Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags
ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.

Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,
ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr,

ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält,
begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.


Ingeborg Bachmann verfasste diesen Text 1964, im Shakespeare-Jahr (400. Geburtstag), in einer Phase der Erholung nach dem Zusammenbruch Ende 1962 und dem folgenden schwierigen Jahr 1963, im Kontext der für sie beglückenden Beziehung zu Adolf Opel (vgl. hierzu Höller/Larcati 2016, S. 35f). Begonnen hat sie mit der Arbeit an diesem Gedicht auf der Pragreise mit Opel im Januar 1964. In der zweiten Fassung, die bereits den dann bleibenden Titel trägt, widmet sie den Text dem jungen Opel mit einem Shakespeare-Zitat: "To the only begetter". 1964 trug sie es erstmals in London vor, in einer Übersetzung von George Rapp, am 10. Mai 1965 dann auf einer Lesung in Wien. Zuerst veröffentlicht wurde es 1966 im Programmheft des "Festival di Spoleto", im gleichen Jahr erschien es in einer Auswahl ihrer Gedichte in der DDR, im Aufbau-Verlag. 1968 erfolgte der Abdruck im "Kursbuch" von Hans Magnus Enzensberger, Ausgabe 15 vom November 1968, in einer Gruppe mit dem schlichten Titel "Vier Gedichte".

Das Gedicht lebt von Aporien und Kontradiktionen. Schon im Titel werden wir mit einer irritierenden Behauptung konfrontiert: "Böhmen liegt am Meer". Böhmen, der Landstrich, aus welchem Georg Trakls Mutter kam, liegt etwa auf halbem Weg zwischen Ostsee und Nordsee einerseits, dem Mittelmeer andererseits - von beiden etwa je 340 Kilometer entfernt. Kein Meer weit und breit auch nur in der Nähe. Allerdings ist Bachmann mit ihrem kühnen "Irrtum" nicht alleine in der Literaturwelt. Shakespeare nennt "Bohemia", sein Phantasieland in "The Winter's Tale": "A desert country near the sea". Bachmanns Bild könnte allerdings auch von Grillparzer stammen. In "König Ottokars Glück und Ende" heißt es "Vom Belt bis fern zum adriatischen Golf, (...) Ist niemand, der nicht Ottokarn gehorcht;". Und in der Tat, zur Zeit des legendären Königs Ottokar II. lag Böhmen tatsächlich in gewisser Weise am Meer - und dies gleich zweifach, im Norden mit Ottokars Unterstützung des Deutschen Ordens an der Ostsee und im Süden durch seine Einflußnahme im Friaul. Das währte allerdings nur von 1254 bis 1273.

Dass es Bachmann nicht um diesen historischen Bezug geht, macht der Text mehrfach deutlich. "Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder." So heißt es gleich in Zeile 6. Und in Zeile 20 lesen wir, dass Böhmen "jetzt am Wasser liegt". Am Wasser zu liegen, am Meer, macht "Böhmen" bei Bachmann zur Utopie, zu einem Schutzraum, einer Zuflucht.

Der Zyklus-Text im Kursbuch 15 vor "Böhmen liegt am Meer" trägt den Titel "Prag Jänner 64" (publiziert von Enzensberger wohlgemerkt im Jahr des "Prager Frühlings"). Er beginnt mit der Strophe "Seit dieser Nacht/gehe und spreche ich wieder,/böhmisch klingt es,/als wäre ich wieder zuhause,". Unseren Text setzte die Autorin ans Ende des Zyklus mit der Begründung, damit sei "alles gesagt". Was aber hat sie in Prag erfahren? Zum einen mit Opel die temporäre Überwindung der Krise nach der Trennung von Frisch, eine Anknüpfung an die glückliche Zeit davor, mit Henze in Italien. Etwas wie eine Synthese zeichnet sich ab, die höhere Stufe eines dialektischen Dreischritts in der Liebes- und Lebenserfahrung. Hans Höller und Arturo Larcati, die den Beitrag Opels hierzu würdigen, sehen in den Prag-Gedichten der Autorin die Arbeit am "Prinzip Hoffnung".

Eine andere Dimension der Prag-Erfahrung spricht die Autorin in ihrem Entwurf einer "Rede an die Ärzteschaft" an, veröffentlicht 2017 in "Male oscuro". Bei einem Besuch in der Prager Poliklinik während einer nächtlichen Krise habe ein Arzt ihr, "nach zwei Stunden Untersuchung, die Wahrheit gesagt". Sie nennt diese für sie befreiende Wahrheit nicht explizit, aber wenig davor erwähnt sie "diese Krankheit, nein, sagen wir es schon, die Neurose". Und am Ende dieser "Rede" bekennt sie: "ich bin durch viele Behandlungen gegangen, aber die erste richtige Diagnose ist eine Erlösung."

Wesentliche Gehalte von "Böhmen liegt am Meer" kehren im dritten Kapitel von "Malina" wieder, dann aber im Gestus des Scheiterns. So etwa im - negierten - "Ich bin eine Andere". Das Bild der "Böhmen" als "Seefahrer, Hafenhuren" kehrt prosaisch wieder als Straßenarbeiter "mit nacktem Oberkörper", das Bild von "Böhmen liegt am Meer" kapituliert in den Bemühungen, Wien "mit Hilfe des Militärs" an die Donau zu verlegen, wie das Ich des Romans Malina berichtet.

Ingeborg Bachmann nannte dieses Gedicht bereits 1965/66 in einem Briefentwurf an ihren "Caro Dottore", den Baden-Badener Psychoanalytiker Helmut Schulze, ihr "bestes" - und bekennt, dass sie gerade bei diesem Gedicht wenig an einer Veröffentlichung interessiert sei, es nur einmal vorgelesen habe öffentlich. In einem undatierten Briefentwurf an Hans Magnus Enzensberger, vermutlich vom Mai 1968, schreibt sie, dass "Böhmen das beste Gedicht ist, das ich je geschrieben habe".

Anselm Kiefer, der sich Bachmann vielfach verbunden fühlt, hat dem Gedicht "Böhmen liegt am Meer" eine eigene Arbeit gewidmet, ein monumentales Bild dieses Titels von 1996.

Lektüreempfehlung: Hans Höller/Arturo Larcati, Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Die Geschichte von "Böhmen liegt am Meer", Piper 2016



Wahrlich *
für Anna Achmatowa
(1964)


Wem es ein Wort nie verschlagen hat,
und ich sage es euch,
wer bloß sich zu helfen weiß
und mit den Worten –
dem ist nicht zu helfen.
Über den kurzen Weg nicht
und nicht über den langen.
Einen einzigen Satz haltbar zu machen,
auszuhalten in dem Bimbam von Worten.
Es schreibt diesen Satz keiner,
der nicht unterschreibt.




Eines der letzten Gedichte Ingeborg Bachmanns ist ein Widmungsgedicht für die 1889 geborene, von Bachmann sehr geschätzte russische Dichterin Anna Achmatowa, welcher im Dezember 1964 auf Sizilien der Premio Etna-Taormina verliehen wurde. Bachmann war Mitglied der Jury und ist Achmatowa im Kontext der Preisverleihung in Rom begegnet. Das Gedicht entstand vermutlich nach dieser Begegnung.

Der Titel "Wahrlich" lässt das biblische "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch" (Johannes 5:24) anklingen. Der Bibeltext geht weiter mit " Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen." Ein Bezug des Bachmannschen Textes zu dieser Bibelstelle ist offenkundig.

Allerdings bleibt der Bezug in größtmöglicher Distanz zum Gehalt der Bibelstelle. Spricht in der Bibel Jesus als Sendbote Gottes mit der Verheißung des ewigen Lebens, werden wir im Gedicht mit bruchstückhaften Sätzen konfrontiert, die keine frohe Verheißung für Gläubige enthalten. Verkündet wird vielmehr, es sei dem nicht zu helfen, dem es "ein Wort nie verschlagen" habe - so wenig wie dem, der nur mit den Worten sich zu helfen wisse.

Hilfe scheint nur dem zu werden, dem es gelinge, "einen einzigen Satz haltbar zu machen". Und wir dürfen vermuten, dass diese Person ein Dichter, eine Dichterin sei, der Spracharbeit verpflichtet. Verpflichtet, gegen den "Bimbam von Worten" anzugehen.
Verpflichtet durch die eigenen Signatur. Eine Signatur, die im Falle Achmatowas auch religiöse Bindung bedeutete.

Religiöse Anklänge prägten Achmatowas Literatur schon früh, auch wenn es in ihrer Literatur selten um vordergründig religiöse Themen geht. Ihr zweiter Gedichtband von 1914 trug den Titel "Gebetsperlen". In einem Gespräch mit Joseph Brodsky sprach die Autorin nach dessen Bericht über die Möglichkeit, die Bibel in Verse zu übertragen, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Worüber Achmatowa mit Bachmann in Rom sprach, wissen wir nicht.



Enigma *
Für Hans Werner Henze aus der Zeit der ARIOSI
(1966-67/1968)


Nichts mehr wird kommen.

Frühling wird nicht mehr werden.
Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.

Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen
wie „sommerlich“ hat –
es wird nichts mehr kommen.

Du sollst ja nicht weinen,
sagt eine Musik.

Sonst
sagt
etwas
niemand
etwas.




Das Gedicht entstand vermutlich 1966 oder 1967, vielleicht aber auch schon 1963, und wurde 1968 erstmals im "Kursbuch" Nr. 15 veröffentlicht. Die Widmung verweist auf das Jahr 1963, als Henze an seinen "Ariosi für Sopran, Violine und Orchester" zu Texten von Torquato Tasso arbeitete und Bachmann nach der Trennung von Max Frisch für kurze Zeit bei ihm Zuflucht fand.

"Enigma" bedeutet "Rätsel". Dagegen steht in deutlichem Widerspruch die apodiktische Sprechweise dieses Textes. Auf Anhieb scheint alles klar, keineswegs rätselhaft: "Nichts mehr wird kommen." Frühling werde nicht mehr kommen und Sommer werde nicht mehr kommen. Und wie wir wissen, sind die Gedichte nach 1956 entschiedener als die davor auch biographisch zu lesen. Es war am 04. Januar 1963, als Ingeborg Bachmann aus Uetikon den verzweifelten Brief an Hans Werner Henze schrieb, der beginnt mit dem Beschluss, "dass das Leben der letzten Jahre zuende ist". Und im Fortgang des Briefes nennt sie die Trennung von Max Frisch "die grösste Niederlage meines Lebens", sie sei "tödlich verletzt". Möchte sie dies hier, enigmatisch verschlüsselt, mitteilen?

"Du sollst ja nicht weinen,/sagt eine Musik." - Dieser Vers klingt wie eine direkte Wendung an Henze, den Komponisten, der durch gemeinsame Arbeiten, 1964 an der Oper "Der junge Lord", die Autorin auf ihre eigentliche Aufgabe - jenseits der persönlichen Misere - verweisen möchte, die Kunst.

Die Zeile zum "tausendjährigen Kalender" hebt den Gehalt des Gedichtes allerdings schon zu Beginn hinaus über die Verarbeitung einer persönlichen Misere. Unüberhörbar ist der Bezug zum "tausendjährigen Reich" des Nationalsozialismus. Jeder sei betroffen von diesem "Frühling wird nicht mehr kommen", versichert der Text.

Bachmann selbst schrieb zu "Enigma": "Dieses Gedicht ist eine Collage".  Sie hat weiters Hinweise darauf gegeben, dass in diesem Gedicht die Altenberg-Lieder Alban Bergs und ein Kinderchorlied Mahlers zitiert seien. Nun beginnt das vierte der Altenberg-Lieder so: "Nichts ist gekommen, nichts wird kommen für meine Seele". Und in der 3. Symphonie von Gustav Mahler gibt es in einem Lied die Zeile "Du sollst ja nicht weinen", gesungen von einem Frauenchor.

"Enigma" hieß auch die Verschlüsselungsmaschine, die vom nationalsozialistischen Regime zur Codierung des Nachrichtenverkehrs verwendet wurde. Als Mitarbeiterin der amerikanischen Besatzungsverwaltung in Wien dürfte Bachmann davon erfahren haben. Es gibt im Nachlass der Autorin noch drei weitere Gedichte/Entwürfe mit dem Titel "Enigma".




Lieder auf der Flucht

Der vierte Block von Gedichten in der Sammlung "Anrufung des Großen Bären" von 1956 ist zusammenfassend überschrieben mit "Lieder auf der Flucht". Dem Zyklus von 15 einzeln unbetitelten Gedichten vorangestellt ist ein Zitat Francesco Petrarcas aus dem "Trionfo d'Amore" III/148ff.

Dura legge d'Amor! ma, ben che obliqua,
Servar convensi; però ch'ella aggiunge
Di cielo in terra, universale, antiqua.

"Hartes Gesetz Amors! Doch auch wenn es uns querläuft,/Es ziemt sich zu gehorchen; wo es sich doch herablässt/Vom Himmel zur Erde, allumfassend, Ehrfurcht gebietend."

Während ihres Aufenthaltes bei Henze auf Ischia 1953 hatte Bachmann Petrarca im Reisegepäck. Im September 1953 schrieb sie aus Forio/Ischia an Paul Celan: "Manchmal wünsche ich mir, nie mehr zurück zu müssen nach ›Europa‹". Sie meint ein durch zwei Weltkriege zerstörtes und gezeichnetes Europa, ein korrumpiertes, im Blockstreit zerrissenes Europa, dem sie auf Ischia den Rücken gekehrt hatte. Der Bezug auf Petrarca macht aber deutlich, dass wir hier "Flucht" nicht nur politisch lesen dürfen, sondern im Kontext der Liebesthematik. Sie war Henze nach Ischia gefolgt auch im Versprechen einer Beziehung, die letztlich Freundschaft wurde, aber auch hochfliegende Ehepläne kannte. Im Winter und Frühling 1956 lebten die beiden in einer gemeinsamen Wohnung in Neapel.

In den Texten selbst wird der Bezug zur Zeit mit Henze einmal auch geographisch expliziert, mit der Nennung von Neapel im Gedicht IV. Allerdings wird durch die Nennung der Sporaden in Gedicht III klar, dass wir uns nicht geographisch kaprizieren sollten. Was sich durch viele der Texte zieht ist ein Bezug zum Meer und zu Vulkanischem. Was gleichfalls auffällt, ist die Spannung zwischen Kälte, Eis, Schnee einerseits, Feuer, Lava, Rauch andererseits. Wir dürfen hier eine Reverenz vor Petrarca lesen, in dessen "Canzoniere" der Liebende immer wieder Hitze und Kälte aufeinander treffen lässt, in ein Bild zwingt. So heißt es im Sonett 104 (Text CXXXIV): "ed ardo e sono un ghiaccio". Weitere Motive des Canzoniere, die "chiome bionde" - "quel oro dolce" (in CCXXVII, bei Bachmann in Text XI: "Wo ihre goldenen Haare niederhängen"), die Augen der Geliebten, die Gestirne, die Todesnähe des Liebenden, klingen an. Schon der Titel des Bachmann-Zyklus zitiert Petrarca, bedeutet "Canzoniere" doch nichts weiter als "Liederbuch".

Im letzten Text des Zyklus, XV, heißt es in der ersten Zeile: "Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen". Neben dem "Trionfo d'Amore" hat Petrarca auch einen Zyklus mit dem Titel "Trionfo della Morte" geschrieben - mit weiteren vier "Trionfi", darunter der "Trionfo del Tempo" und der "Trionfo dell'Eternità". So verstehen wir auch, worauf die zweite Zeile von Text XV sich bezieht, die da lautet "die Zeit und die Zeit danach". "Wir haben keinen" endet die erste Strophe von Text XV lakonisch - einen "Trionfo dell'Umanità", des "Wir", hat Petrarca nicht geschrieben. Oder will Ingeborg Bachmann darauf verweisen, dass wir nicht mehr schreiben können wie Petrarca, nicht mehr mit ihm Triumphe zelebrieren können? "Nur Sinken um uns von Gestirnen." Nein, sie scheint mit dem Petrarca des Canzoniere durchaus hier einverstanden. Wie dieser immer wieder darauf verwies in den Lieder des Canzoniere, dass diese alleine bleiben werden, dass seine Lieder die Liebe und die Geliebte - und auch ihren Autor - verewigen werden, so erklärt Bachmann in den letzten Zeilen ihres Zyklus: "Doch das Lied überm Staub danach/wird uns übersteigen." Da möchte ich die Autorin fragen: Welche Stimmen werden das Lied dann singen?

Der Zyklus "Lieder auf der Flucht" ist nicht nur Reverenz vor Petrarca, sondern auch eine Auseinandersetzung mit dessen lyrischem Werk und mit seinem Selbstverständnis als Dichter. Wie das Leben Bachmanns, so war auch das Leben Petrarcas durch beständige Wohnsitzwechsel und wechselnde Aufenthalte von einem jeweiligen Wohnsitz aus gezeichnet. Das Motiv der Flucht wird in der Forschung dem Leben beider zugeschrieben. Hans Werner Henze schreibt im April 1957 an Bachmann: "Deine ständige flucht ist mehr als natürlich, aber für mich ein grosser bitterer und tiefer schmerz."

Am 1. Mai 1954 schickt Ingeborg Bachmann an Hans Werner Henze den Zyklus "Lieder von einer Insel". Dieser Zyklus ist gleichfalls in "Anrufung des Großen Bären" publiziert. Auch hier erscheinen schon die Hauptmotive Meer und Vulkan, das Feuer ist präsent, Eis und Schnee noch nicht. Dieser Zyklus ist erkennbar näher an der Ischia-Erfahrung, nimmt Bezug auch auf Heiligenfeste, die Bachmann auf Ischia kennen lernte. Gleich bei ihrer Ankunft erlebte sie das Fest von San Vito, das sie tief beeindruckte.


PROSA  


Das dreißigste Jahr

Der Erzählungsband "Das dreißigste Jahr" erschien 1961 bei Piper in der gebundenen Ausgabe und fünf Jahre später bei dtv als Taschenbuch. In der Folge wurde die Sammlung zum heimlichen Bestseller, denn, Hand aufs Herz, wer von den älteren Lesern hat nicht schon ein Exemplar davon zu einem dreißigsten Geburtstag verschenkt oder zumindest zum eigenen Dreißigsten geschenkt bekommen? Dass bei Ingeborg Bachmann der Text durchaus auch biographische Bezüge hat, zeigt der Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger. Enzensberger schreibt am 27. November 1959 an Ingeborg Bachmann: "ich bin jetzt wirklich dreißig jahr alt. der tag selbst ist so leicht und unmerklich vorbeigeflogen wie ein kilometerstein, aber es ist bedrückend zu wissen, daß das wort zukunft fortan etwas anderes bedeutet als zuvor." Und Bachmann erwidert nach dem 10. Oktober 1960 an Enzensberger: "So bleibt mir nur zu sagen, dass das Reisen nach dem dreissigsten Jahr einem unvermutete Schwierigkeiten macht". Eine Brief später erwähnt sie das "Geschichtenbuch", das sie gerade sehr beschäftige. "Trau keinem über Dreißig" war auch einer der Slogans der nachfolgenden Generation. Wobei sich dies nicht nur auf den Gegensatz Alt-Jung/Konservativ-Fortschrittlich, sondern auch darauf beziehen lässt, dass die Älteren mit dem Nationalsozialismus in Verbindung standen - und sei es auch nur dadurch, dass sie vor dem Kriegsende geboren waren.

Der Band gilt in der Literaturkritik heute als einer der Höhepunkte im Schaffen Bachmanns. Das war nicht immer so. Nach Erscheinen wurde ihm - wie später dem Romanwerk "Malina" - ein Sündenfall der Autorin vorgeworfen, Verrat der Autorin Bachmann an der Lyrikerin Bachmann. Sprachliche und thematische Entgleisungen wurden ihr vorgehalten, insbesondere am Beispiel der Erzählung "Ein Schritt nach Gomorrha", in welchem eine homoerotische Begegnung zweier Frauen entfaltet wird.

Der Band enthält sieben Prosastücke Ingeborg Bachmanns, die zuvor öffentlich nur als Lyrikerin wahrgenommen wurde und mit ihrer Lyrik auch gehörig Furore gemacht hatte. Alle Texte beschäftigen sich mit dem Themenkreis Individualität und Selbstbehauptung in der Gesellschaft. Die Gesellschaft, das waren die restaurativen Gesellschaften der Nachkriegszeit, vor allem in Deutschland und Österreich. Der erste Text, "Jugend in einer österreichischen Stadt", wurde 1959 erstmals veröffentlicht. Er schildert, weitgehend autobiographisch verfasst, Erinnerungen der Erzählerfigur anlässlich eines Besuchs in Klagenfurt an die Kindheit und die Kriegszeit in dieser Stadt. Von "Kindern" ist wohlgemerkt fortwährend die Rede, nicht von "Jugendlichen".

Der zweite Text ist titelgebend für die Sammlung. Von der Kindheit macht er den Sprung ins "dreißigste Jahr". Ein Jahr, das genannt wird als Jahr, in welchem das "Er" der Erzählung "eine wundersame neue Fähigkeit" in sich entdeckt, die "Fähigkeit, sich zu erinnern". Und "Erinnern" war ja das große Thema der ersten Geschichte. Dies gibt uns einen Hinweis darauf, was die Erinnerung im "dreißigsten Jahr" so unabweisbar, so überwältigend, so beunruhigend macht. Wir könnten Hölderlin, "Wie wenn am Feiertage", zitieren, oder Nietzsche, dem Erinnern ein Fluch war. Hier bei Bachmann geht es offenkundig um eine vergessene Geschichte, die Geschichte der eigenen Herkunft - nicht nur, aber auch die Geschichte einer Kindheit im Krieg. In "Das dreißigste Jahr" werden allerdings weder Klagenfurt noch der zweite Weltkrieg angesprochen. Ihre Positionen nehmen Wien und ein privater Krieg ein, der Krieg einer männlichen Hauptfigur in der erlebten Rede der dritten Person, gegen sich selbst, die bürgerliche Welt, eine Liebesbeziehung.

Das Jahr nach dem 29. Geburtstag wird durchweg als katastrophisch geschildert, etwas bricht herein über die Figur im Zentrum, eine vernichtende Bilanz seines bisherigen Lebens. Eine Bilanz, die deutliche Anklänge an den "Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil zeigt. Bachmanns Held jedoch muss in seinem 30. Jahr erkennen, "daß von tausendundeiner Möglichkeit vielleicht schon tausend Möglichkeiten vertan und versäumt waren - oder daß er sie hatte versäumen müssen, weil nur eine für ihn galt". Diese Gewissheit wird ihm in der Inbesitznahme seiner Erinnerung unabweisbar, weshalb "Das dreißigste Jahr" nicht zu lesen ist ohne die vorausgehende Erzählung "Jugend in einer österreichischen Stadt". Und nicht ohne Bezug zu Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" - der sich seine "tausend Möglichkeiten" über das dreißigste Jahr hinaus zu bewahren sucht.

Ganz zum Ende der Erzählung wird aus dem "Er" ein "Ich" und erkennt "Ich lebe ja!". Und im letzten Satz sagt dieses "Ich" zu sich selbst: "Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen." Der biblische Anklang an Wunderheilungen Jesu ist unüberhörbar. Und nun steht da: Heilung, Erlösung kann dir nur von dir selbst kommen.



Simultan

Der Erzählungsband "Simultan" entstand parallel zu den Romanen des Todesarten-Projektes (wovon nur "Malina" vollendet und zu Lebzeiten publiziert wurde). Erschienen ist er 1972 als letzte Publikation zu Lebzeiten der Autorin. Er wird von der Literaturwissenschaft als integraler Teil des Todesarten-Projektes (so von Robert Pichl) oder lediglich als beilaufende Nebenarbeiten (so von Sigrid Weigel) gewertet. Ingeborg Bachmann nannte die fünf Erzählungen "Skizzen, mehr nicht, am Rand". An anderer Stelle schreibt sie: "In einer Zeit, in der ich finster und angestrengt versuchte, mit dem Buch Todesarten zurechtzukommen, (...) habe ich angefangen, daneben eine Geschichte zu schreiben, dann noch eine (...)". Im Mittelpunkt der Geschichten steht auch hier, wie in "Malina", "Der Fall Franza" und "Requiem für Fanny Goldmann", die Problematik weiblicher Existenz in einer patriarchal verfassten Gesellschaft.

Die Titelerzählung "Simultan" wurde bereits 1968 in einer Rundfunkfassung vom NDR gesendet. Die Hauptperson, eine Simultandolmetscherin aus Wien, Nadja, lernt auf einer Konferenz in Rom einen Agronomen aus Wien kennen, einen UNO-Mitarbeiter, Mr. Frankel,  und beschließt spontan, mit ihm einige Urlaubstage in Süditalien zu verbringen. Nadja arbeitet mit sechs Sprachen, Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Russisch. Und neben Deutsch erscheinen in diesem Text auch Französisch, Englisch, Italienisch und ein wenig Russisch. Dazu ganz vereinzelte Brocken Wienerisch und das "Bože moj" des Beginns. Die gemeinsame Herkunftssprache Deutsch in einem polyglott geprägten, vom Englischen dominierten beruflichen Umfeld, scheint die beiden Personen zu verbinden, doch es kommt zu ständigen Missverständnissen, bis die beiden sprachlos geworden abreisen, die Frau noch einmal alleine ins geräumte Hotelzimmer geht und sich vergebens an der Übersetzung einer Bibelstelle versucht, aus einer Hotelbibel.

Die übrigen vier Erzählungen sind "Probleme, Probleme", "Ihr glücklichen Augen", "Das Gebell", "Drei Wege zum See". Von ihnen hat nur "Drei Wege zum See", die Geschichte um die Kriegs- und Prominenten-Fotografin Elisabeth, größere Beachtung gefunden. Autobiografische Anklänge in dieser Erzählung sind unübersehbar, Kindheit in Klagenfurt, Vaterfigur, mit großem Abstand jüngerer Bruder und dessen Heirat in London, seinem Leben selbst ein Ende setzender Geliebter, wesentlich jüngere Liebschaft, wichtige Bezüge zu Paris und Wien, Mythos Galizien - das sind nur die auffallendsten Bezüge zur Biografie der Autorin. "Drei Wege zum See" ist auch einer der wenigen Texte Bachmanns, in denen eine Mutterfigur angesprochen wird. Und wie in der Titelerzählung "Simultan" geht es auch um Sprachen, Fremd-Sprachen und Heimat-Sprachen. Dem österreichischen Regisseur Michael Haneke verdanken wir eine bemerkenswerte und äußerst verdienstvolle Verfilmung von 1976.

Der Erzählungsband wird von der feministischen Literaturtheorie dezidiert als Kritik an der gesellschaftlichen Festschreibung weiblicher Rollenmuster gelesen. So vermerkt Erika Greber über die Rolle der dolmetschenden "Mittelsfigur" in der Titelerzählung, "(d)aß sie weiblich besetzt ist, kann als feministische Diagnose des Rollendilemmas der emanzipierten modernen Frau verstanden werden" (Erika Greber, Fremdkörper Fremdsprachen, in: Mathias Mayer, Werke von Ingeborg Bachmann, Stuttgart 2002, S. 180). Bachmann selbst erklärte zu "Simultan": "Es ist also kein Buch für Frauen und auch keins für Männer, es ist ein Buch für Menschen." (Todesarten-Projekt, Bd. IV, S. 11)

An ihren Verlag schreibt die Autorin zur Titelwahl: "Simultan (...) heißt nur, was es heißt, daß man eben nicht wirklich übersetzen kann, daß kein Mensch einem anderen übersetzen kann, was er denkt und fühlt." Und weiter führt sie aus "was stattfindet, ist ein simultanes Geschehen und Denken und Fühlen, und Sprachen, die sich nie ganz begegnen, jeder muß den andren ein wenig übersetzen".

Lektüreempfehlung: Erika Greber, Simultan, in: Mathias Mayer (Hrsg.), Werke von Ingeborg Bachmann, Stuttgart 2002, S. 176-195



Malina

Malina (Ingeborg Bachmann betonte bei Lesungen auf der gedehnten ersten Silbe, die Literaturkritik bevorzugt die Betonung auf der gedehnten zweiten Silbe) ist der erste (und einzig vollendete) Roman der Trilogie "Todesarten", erschienen 1971 im Suhrkamp Verlag, nachdem die Autorin zuvor mit Gedichten und Erzählungen von Piper verlegt wurde. Lektoren waren Martin Walser und Uwe Johnson. Ihr "Todesarten"-Projekt hat die Autorin während einer Lesung in Zürich 1967 so charakterisiert: "Todesarten, das ist für mich, soweit ich den eigenen Plan absehen kann, ein Kompendium der Verbrechen, die in dieser Zeit begangen werden." (Todesarten-Projekt. Kritische Ausgabe 1995, Bd. 2, S. 359)

Der Text ist vielschichtig aufgebaut, im Zentrum stehen die weibliche Ich-Erzählerin, geboren in Klagenfurt (wie Bachmann), wohnhaft in der Ungargasse Wien mit der Zeitangabe "heute", und ihr Mitbewohner Malina, eine männliche Doppelgängerfigur des "Ich". Im ersten Kapitel, "Glücklich mit Ivan", wird die Beziehung zu einem Mann mit zwei kleinen Kindern (5 und 7 Jahre alt) entwickelt, der beruflich einflußreich und erfolgreich scheint. Das zweite Kapitel heißt "Der dritte Mann" (eine Anspielung auf den Film von Carol Reed), mit einer gewalttätigen Vaterfigur als Subjekt nationalsozialistischer Gräuel, das in den Phantasien und Angstträumen des "Ich" agiert. "Von letzten Dingen" ist das dritte Kapitel überschrieben. Bei Heidegger sind in "Vom Wesen des Grundes" die letzten Dinge "Tod und Gericht". Bei Bachmann geht es um den Versuch, die Negationen des zweiten Kapitels zu überwinden. In diesem letzten Kapitel erscheint auch Ivan wieder, der im zweiten Kapitel nur in der Erinnerung des Ich kurz präsent ist. Doch der dritte Schritt des dialektischen Prozesses, die Synthese nach These und Antithese, endet im Urteilsspruch "Es war Mord".

Marcel Reich-Ranicki, bekennender Anhänger realistischer Erzählweisen, bezeichnete den Text als "trübes Gewässer" mit einem "pseudophilosophischen Anspruch". 1972 formulierte er mit Blick auf diesen Roman auch sein bekanntes Verdikt von der "gefallenen Lyrikerin" - nachdem er zuvor schon die Erzählungen der Autorin abgelehnt hatte. Wie er 2001 in der 5. Sendung von "Lauter schwierige Patienten"  im Gespräch mit Peter Voß erklärte, wollte er das Buch nicht besprechen, da ihn der Leidensgestus der alkoholkranken Autorin befremdete und er nicht "mitschuldig werden" wollte an ihrem zu erwartenden Untergang. Sein Kollege Hans Mayer wies dagegen auf den Kunstcharakter des Werkes hin: "Auf autobiographische Details darf man nicht hineinfallen. Auch sie gehören zur kompositorischen Ironie von Ingeborg Bachmann". Auf dieses Urteil berief sich die Autorin gelegentlich, wenn sie nach dem biographischen Gehalt des Buches gefragt wurde.

Ingeborg Bachmanns Vater, überzeugter Sozialist, trat bereits 1932 der NSDAP bei. Die Gewaltängste und Verletzungsphantasien des Romanes "Malina" wurden vor allem in der feministischen Rezeption auch gedeutet als Hinweise auf die politische Verstrickung des Vaters in den Nationalsozialismus und auf reale Übergriffe, sexuellen Mißbrauch durch den Vater. Wobei letzteres in der Forschung inzwischen für unwahrscheinlich gehalten wird. So hat Bachmann sowohl der Schwester, als auch dem Vater gegenüber die entsprechenden Passagen mit innerliterarischen Argumenten begründet. Allgemeiner wird der Roman im Feminismus gelesen als Thematisierung der Frauenzerstörung in patriarchalischen Gesellschaften. Allerdings wird auch hinterfragt, ob der Roman und seine Autorin die hierarchische Geschlechterbeziehung nicht gerade "erneut festschreibt" in einer Zeit, die sie bereits erfolgreich aufgebrochen habe (Albrecht/Göttsche 2004, S. 355). In einem Interview mit Iris Radisch 1996 zu ihrem 75. Geburtstag formuliert Ilse Aichinger eine sehr persönliche Kritik an Bachmanns Haltung zum Geschlechterverhältnis: "Ach, die Bachmann! Die ist so feminin, so ungeheuer ergeben. Sie kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass es auch biologische Revolte, Anarchie gibt."

Bachmann bezeichnete "Malina" als ihre "geistige, imaginäre Autobiographie". Ihr enger Vertrauter und Freund Hans Werner Henze nannt den Roman in einem Telegramm an sie "die Elfte von Mahler". In der Forschung wurden interessante Bezüge zur Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins herausgearbeitet, mit der Ingeborg Bachmann sich in zwei Essays von 1953 auseinandergesetzt hatte: "Sagbares und Unsagbares - die Philosophie Ludwig Wittgensteins", "Ludwig Wittgenstein - Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte".

Lektüreempfehlung: Ingeborg Bachmann, Malina. Mit einem Kommentar von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Suhrkamp 2004



Das Buch Franza

Der unvollendete Roman gehört zum Todesarten-Zylus, von welchem lediglich "Malina" abgeschlossen und zu Lebzeiten der Autorin veröffentlicht wurde. Die Arbeit am "Buch Franza" wurde 1966 abgebrochen, sprachlich-erzählerisch ist der Text in besonderer Weise Samuel Beckett und Robert Musil verpflichtet, zwei Autoren, deren Figuren in endlosen Neuansätzen um ihre Ich-Behauptung ringen.

Bei Robert Pichl, dem Herausgeber der Kritischen Ausgabe zum "'Todesarten'-Projekt", heißt das Romanfragment 1985 im Aufsatz "Flucht, Grenzüberschreitung und Landnahme" noch, mit Anklang an Medizin und Kriminalistik, "Der Fall Franza" - und das kann sich auch auf den Text selbst berufen, auf Seite 271 nennt Franza den "Fall F.", bezogen auf Notizen ihres Mannes, eines Mediziners. In der Todesarten-Ausgabe von Monika Albrecht und Dirk Göttsche dann 1995 trägt das Fragment mit unverkennbar biblischem Anklang den Titel "Das Buch Franza" - und bei Franziska Frei Gerlach schließlich im Jahr 2000, in "Geschwisterschaft in Wort und Bild", erscheint es nüchtern als "Franza-Fragment". Dabei wäre formal sicherlich "Franza-Fragmente", als Plural, angemessener. Denn wir finden eine Materialsammlung, mit häufigen Abbrüchen, Neuansätzen, Varianten, mit ausformulierten und vielfach überarbeiteten längeren Passagen und ersten Niederschriften. Und doch ist auch ein klarer Plan erkennbar, deutlich an der Dreiteilung des Werkes (analog zu "Malina") in Bruderperspektive ("Heimkehr nach Galicien"), Schwesterperspektive ("Jordanische Zeit") und - gebrochen - gemeinsamer Ägypten-Erfahrung ("Die ägyptische Finsternis").

Im Zentrum des Romans steht ein Geschwisterpaar mit Wohnsitzen in Wien, Franza und ihr Bruder Martin Ranner, ein Geologe, der etwas mit Erdöl zu tun habe - wie Bachmanns Bruder Heinz. Franza lebt in Wien mit dem vom Bruder so genannten "Fossil" zusammen, einem wesentlich älteren, wohlhabenden Medizinprofessor, Leopold Jordan, der sie ihrer Nervenleiden wegen in eine Klinik in Baden bei Wien geschickt hatte. Im Text ist ohne weitere Erhellung auch von einer "Operation" die Rede. Franza verlässt ohne Wissen der Ärzte die Klinik und schickt ein dreiseitiges Telegramm an den Bruder, mit der Bitte um Hilfe, als der gerade auf einer Reise nach Ägypten unterwegs ist.

Martin bricht seine Reise ab und macht sich auf die Suche nach der Schwester, findet sie schließlich am Ort der gemeinsamen Kindheit, in "Galicien", und nimmt sie nach langem Zögern mit nach Ägypten, wo Franza nach einer Vergewaltigung an der Großen Pyramide von Gizeh im Hotel stirbt.



"Heimkehr nach Galicien" und "Jordanische Zeit" - 1. und 2. Buch Franza

Im 1. Buch, "Heimkehr nach Galicien", erhält der Bruder Martin den Hilferuf Franzas per Telegramm und reist umgehend zurück nach Wien, kann aber weder von der Klinik noch von der Köchin in der ehelichen Wohnung Franzas etwas über deren Aufenthalt erfahren. Martin vermutet sie dann im Elternhaus in Galicien. Dort findet er sie in der Tat und er will sie zunächst wieder in eine Klinkik nach Wien bringen. Doch Franza weigert sich, auch eine Klinik in der Schweiz kommt für sie nicht in Frage - sie möchte mit dem Bruder nach Ägypten. Im Verlauf der Auseinandersetzung zwischen den Geschwistern in Galicien tauchen Kriegsbilder auf und Martin nennt in seinem Bericht nun die Schwester selbst "Fossil" (S. 190), da sie "in der Magie und in Bedeutungen" lebe, leidend an der "Krankheit des Damals" (S. 170). Martin selbst ist Naturwissenschaftler, Kind des Fortschritts, "Martin kannte keine Magie" (S. 190). Martins Bericht vom Hilferuf der Schwester, von seiner Suche nach ihr und von der Begegnung in Galicien macht den Inhalt von "Heimkehr nach Galicien" aus, das weitgehend aus seiner Perspektive geschrieben ist, auch wenn in der Kriegserzählung Franzas Erfahrung im Mittelpunkt steht.

Das zweite Buch der edierten Hauptfassung des Werkes ist überschrieben mit "Jordanische Zeit". Zunächst verweist dies auf den Ehenamen Franzas, den sie vor der Rückkehr nach Galicien abgelegt hatte. In diesem Teil des Buches wird nun von Franzas Ehejahren mit Leo (so wird er von den Geschwistern genannt) Jordan berichtet, als Rückblick auf der Überfahrt von Genua nach Alexandria gemeinsam in einer Schiffskabine. Die biblische Bedeutung des Flusses Jordan als Grenzfluß des Gelobten Landes klingt in diesem wenig ausgearbeiteten Werkteil mit an, in aller Widersprüchlichkeit zur negativen Zeichnung des Ehemanns Jordan als "Blaubart", als "Faschist" (S. 247). Die "Jordanische Zeit" ist geprägt durch Bilder des Kolonialismus, Franza vergleicht sich mit den Papua, spricht vom Aussterben kolonisierter Völker als einer Art "Selbstmord" (S. 231). Kolonialismuskritik verbindet sich dabei mit Kapitalismuskritik wenn sie ausführt, "ich bin von niedriger Rasse. Oder müsste es nicht Klasse heißen, denn ich bin ausgebeutet, benutzt worden" (S. 230).

Die Seitenangaben beziehen sich auf: Monika Albrecht/Dirk Götttsche (Hrsg.), "Todesarten"-Projekt Band 2, 1995



"Die ägyptische Finsternis" - Das 3. Buch Franza

Im dritten und letzten Buch, das in Ägypten spielt, ist häufig von den "Weißen" die Rede, die Franza bedrohen (S. 255, 274, 277f). Dieses dritte Buch trägt den Titel "Die ägyptische Finsternis". Es ist selbst wieder in drei Teile gegliedert, wobei die edierte Hauptfassung nur Teil I und Teil III bietet. Der erste Teil beginnt mit der Wüste, die als "große Heilanstalt" bezeichnet wird. Und dann kommt, umringt von der dreimaligen namentlichen Nennung des Bruders Martin, ein kleiner philosophischer Exkurs des auktorialen Erzählers im Duktus einer erlebten Rede Franzas zum "Nichts", mit klarem Bezug auf Martin Heidegger, dessen philosophischer Ansatz Promotionsthema Bachmanns war: "die Wüste hat nichts zu tun mit dem erspekulierten Nichts der Lehrstuhlinhaber". Das Geschwisterpaar unternimmt eine Reise am Nil entlang, wird zu Zaungästen bei der Eröffnung des neuen Assuan-Staudamms. Damit wird die Spielzeit des Romans auf 1971 datierbar. Ein zentrales Bild ist, wie Franza sich vom Bruder in Nilschlamm einpacken lässt, "wie eine Mumie" habe sie ausgesehen (S. 269). Aber als der Schlamm trocknet, gerät Franza in Panik, "Sie war eingemauert." (S. 270). Nachdem das Paar einer Trauung beigewohnt hat, erscheint Franza in einer traumartigen Szene ihr Vater, der unversehens in Gott übergeht. Teil I des 3. Buches endet mit dem Satz "Die arabische Wüste ist von zerbrochenen Gottesvorstellungen umsäumt." (S. 288)

In die Ausarbeitung dieses Buches spielten erkennbar die konkreten Erfahrungen Bachmanns auf den Reisen mit dem Adolf Opel nach Ägypten und in den Sudan 1964 (wohlgemerkt vor der Eröffnung des neuen Assuan-Staudamms) hinein. Zum einen als Erfahrung von Kultur und Landschaft, aber auch in der erotisch-sexuellen Dimension. Die Biographin Ina Hartwig ("Wer war Ingeborg Bachmann", 2017) schreibt von der "Neigung zu sexueller Grenzüberschreitung" bei Ingeborg Bachmann im Blick auf die Reisen mit Opel. Allerdings war Ägypten für Ingeborg Bachmann schon lange vor diesen Reisen, in der Beziehung mit Paul Celan, ein erotisch und durch die (damals) jüngste Geschichte besetztes Thema. 1948 widmete Celan sein Gedicht "In Ägypten" Ingeborg Bachmann zum 22. Geburtstag.

In Teil III des dritten Buches besuchen Martin und Franza die Mumiensammlung des Ägyptischen Museums in Kairo. Wobei nur Martin den Raum betritt, Franza im Eingang stehen bleibt, von Martin dann Auskünfte einholt über die ausgestellten Mumien, sich schließlich übergibt. Später stiehlt sie dem Bruder 300 Dollar und geht mit diesem Geld zu einem Arzt, Dr. Körner, ein Wiener kleinbürgerlicher Herkunft, wie sie seiner Sprechweise entnimmt, der am Euthanasie-Programm der Nazis beteiligt gewesen war, und fordert von diesem Sterbehilfe. Als dieser ablehnt und sich kurz darauf aus der Stadt begibt, nimmt sie dies als Sieg wahr, sie habe "jemand doch noch das Fürchten beigebracht. Einem von denen." (S. 317).  Mit Martin fährt sie noch einmal zur Großen Pyramide, Martin steigt auf die Pyramide, sie umringt die Pyramide, dabei wird sie vergewaltigt, schlägt danach mit dem Kopf "gegen die Wand in Wien und die Steinquader in Gizeh und sagte laut, und da war ihre andre Stimme: Nein. Nein." Sie wird bewußtlos, drei Holländerinnen finden sie, bringen sie ins Restaurant bei der Pyramide, der Bruder kommt, bringt sie zum Hotel, wo sie auf dem Zimmer im Beisein des Botschaftenarztes an einer Gehirnblutung stirbt. Begraben wird sie vom Bruder dann in Galicien.

Die Seitenangaben beziehen sich auf: Monika Albrecht/Dirk Götttsche (Hrsg.), "Todesarten"-Projekt Band 2, 1995



Der gute Gott von Manhattan

Ingeborg Bachmann war bereits als Studentin ab April 1951 für den Rundfunk tätig, zunächst für den amerikanischen Sender ADN in der "News and Features Section", dann ab September für den amerikanischen Sender Rot-Weiß-Rot als "Script Writer Editor". Für Rot-Weiß-Rot entwickelte sie mit ihren Kollegen Peter Weiser und Jörg Mauthe das Format "Radiofamilie Floriani", das in Hörspielform die Nachkriegszeit im Alltag einer Familie reflektierte, zunächst im vierzehntägigen Turnus, dann wöchentlich. Bachmann war allerdings nur bis 1953 beteiligt. Ihr erstes eigenes Hörspiel, "Ein Geschäft mit Träumen", wurde am 28. Februar 1952 von Rot-Weiß-Rot Wien gesendet.

Die 50er Jahre waren die große Zeit des deutschen Hörspiels. Dies verdankte sich zum einen der allgemeinen Verbreitung des Radios, hatte zum Hintergrund aber auch die hohe Zahl Erblindeter im Gefolge der beiden Weltkriege. Nach dem Ersten Weltkrieg lebten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches eine halbe Million registrierter und anerkannter Kriegsversehrter, nach dem Zweiten Weltkrieg eineinhalb Millionen. Kriegsblinde machten in den 50er Jahren etwa 11.000 aus, sie waren in einem eigenen Verband organisiert, dem 1949 gegründeten "Bund der Kriegsblinden" BKB, Nachfolgeorganisation der bereits 1916 gegründeten Organisation "Bund erblindeter Krieger". Der BKB setzte sich unter anderem für die Förderung des Hörfunks ein und lobte 1950 zum ersten Mal den Hörspielpreis der Kriegsblinden aus, der 1959 Ingeborg Bachmann für "Der gute Gott von Manhatten" verliehen wurde.

Im Hörspiel "Der gute Gott von Mannhatten" geht es um eine Liebesbegegnung zweier junger Menschen, deren Wege sich für einige Tage in New York kreuzen, wo sie in wechselnden Hotelzimmern, die immer höher gelegen sind in der Skyline von Manhattan, den größten Teil ihrer Zeit verbringen. Der junge Mann, Jan, möchte zurück in seine Heimatstadt Cherbourg in der Normandie, gibt aber vor, sein Ticket für die Schiffspassage zurückzugeben. Während er sich statt das Ticket umzutauschen in eine Kneipe zurückzieht, explodiert im Hotel eine Bombe, die seine Partnerin Jennifer tötet. In einer Parallelhandlung tritt der "gute Gott von Manhattan" auf, der die Geschicke der beiden steuert. Er wird des Mordes an Jennifer angeklagt und verteidigt sich damit, dass er Jennifer ersparen wollte, den Betrug Jans an ihrer Liebesbeziehung zu erleben.

"Der gute Gott von Manhatten" wurde am 29. Mai 1958 im NDR Hamburg, im BR München und im SWF Baden-Baden gesendet und war Bachmanns letztes Hörspiel.



Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar

Ingeborg Bachmann hat nicht nur Gedichte, Erzählungen, Romane und Hörspiele geschrieben, sondern auch zahlreiche Essays, Radiofeatures und Reden. Vor diesem Hintergrund mutet es besonders merkwürdig an, wenn der Kritiker Marcel Reich-Ranicki ihr nach der Veröffentlichung von "Malina" 1972 das Diktum von der "gefallenen Lyrikerin" vorhält. Zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden am 17. März 1959 trug Bachmann die Rede "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar" vor, deren Titel seitdem häufig zitiert wird. Der Satz darf durchaus bereits als ein "geflügeltes Wort" gelten.

Zu beachten ist, dass Bachmann nicht von "den Menschen", sondern im generischen Maskulinum singular von "dem Menschen" spricht. Sie meint also nicht primär die im Deutschland der endfünfziger Jahre vehement verdrängte Geschichte des Nationalsozialismus, woran man angesichts des Rahmens der Rede denken möchte. Sie deutet zwar an, dass sie sich an ein Publikum wendet, dass "des Trostes bedürftig sei" in einer besonderen Weise, als Kriegsblinde - ohne diese zu nennen. Doch unverzüglich weitet sie den Blick zu "dem großen geheimen Schmerz, mit dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet ist". Und im Gefolge macht sie uns alle zu Blinden, die des Schriftstellers bedürfen, um uns dem "Schmerz" zu stellen, ihn nicht zu "leugnen". "Denn wir wollen alle sehend werden." Das Bild des - neuen oder erstmaligen - Sehens kommt nochmals, wenn Bachmann davon spricht, dass die Leser, "die anderen", vom Schriftsteller erwarten, sie "in den Stand" zu bringen, "wo ihnen die Augen aufgehen".

"Die Wahrheit", von der Ingeborg Bachmann spricht, ist die eines Schmerzes und die der "Grenzüberschreitung", wie sie ausführt auch und gerade in der Liebe zwischen Mann und Frau, um die es in "Der gute Gott von Manhatten" geht, ihrem letzten Hörspiel, am 29. Mai 1958 gesendet. Die "Wahrheit" dieses Stückes ist, dass Liebe auch das Leben kosten kann. Und erst nach diesem Passus zur Liebe mit einer knappen Erwähnung ihrer Hörspielarbeit kommt Bachmann zu ihrem eigentlichen Publikum, den Kriegsblinden, denen "die ein schweres Los getroffen hat", die beispielhaft dafür stehen, "daß unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück".

Quelle: Ingeborg Bachmann, Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, Piper, 1981


BRIEFE    


Briefe an Felician

Eines ihrer ersten Werke sind die "Briefe an Felician", 1991 herausgegeben von der Schwester Isolde Moser. In einer Folge von Briefen wendet sich ein junges weibliches Ich an ein dominierendes männliches Du, dem gegenüber die Briefschreiberin bekennt: "Ich bin so gewöhnlich und klein, ich werde irgendwo am Wege liegen bleiben." In der Forschung galten die Briefe aufgrund einer Widmung "An JFr Perkonig" auf dem Typoskript eines Gedichtes, das im Felician-Brief vom 30. März 1946 angesprochen scheint, lange unwidersprochen als insgeheim adressiert an den seiner NS-Verbindungen wegen umstrittenen Kärntner Heimatdichter Josef Friedrich Perkonig (1890-1959), einen Freund des Vaters Bachmann, der an der Lehrerbildungsanstalt unterrichtete, die Bachmann 1944/45 besuchte.

Inzwischen werden die "Briefe an Felician" auch als rein literarische Fiktion gelesen, die schon vorwegnehme, was in "Malina" dann differenziert ausgeführt wird, die Abspaltung einer männlichen Repräsentation vom erzählenden weiblichen Ich. Vorbereitet wird dies durch die Herausgeberin Isolde Moser, die im knappen Vorwort etwas kryptisch ausführt: "Erkennbar wird schon in den Briefen das Finden der angestrebten männlichen Instanz, die aber das weibliche Ich nicht verleugnet." Dazu zitiert Isolde Moser einen Passus aus einem undatierten Brief: "Zwei Menschen sind in mir, einer versteht den andren nicht." In diesem Duo ist von der Briefeschreiberin jedoch eindeutig nicht Felician, "Mein einziger Freund", mitgemeint. Der wird weiter unten in diesem Brief angesprochen als "einziger Altar", den sie in diesem Zwiespalt anbeten möchte.

2016 schreibt Joseph McVeigt in "Ingeborg Bachmanns Wien 1946-1953": "Die Briefe inszenieren in der Rede eines weiblichen Ich an ein männliches Du - ähnlich wie später der Roman Malina - ein Gespräch der Autorin mit sich selbst." (Veigh 2016, S. 19) Der Blick in die Briefe begründet erhebliche Zweifel an dieser Ausdeutung. So spricht das Ich beständig im Ton der Liebe und des Begehrens zum Du. "Ich muß den Schleier abreißen um Dir meine Glut vor die Füße zu werfen", heißt es etwa am 10. Oktober 1945. Auch gibt es häufige Bezüge auf die reale Situation zum Zeitpunkt des Schreibens. Zum Wintersemester 1945/46 beginnt Bachmann ihr Studium in Innsbruck, und im Schreiben vom 19. September 1945 aus Innsbruck heißt es mit Blick auf die Liebesbeziehung, "oft glaube ich, dies soll vielleicht das einzige sein, das ich in mein neues Leben herübernehmen möchte". Und am 30. März 1946 schreibt die Liebende: "Der Frühling ist wieder zu uns gekommen." Das ist keineswegs metaphorisch gemeint, denn weiter werden die "Helle, wenn ich erwache", "am Mittag die Wärme" und "am Abend der farbene Untergang der Sonne in den Bergen" genannt.

Quelle: Ingeborg Bachmann, Briefe an Felician, München/Zürich: Piper, 1991



Kriegstagebuch

Kurz nach Kriegsende lernte Ingeborg Bachmann den britischen Soldaten Jack Hamesh kennen. Bachmann war 18 Jahre alt und lebte mit der Familie in Obervellach bei Hermagor, auf dem Bauernhof der Großeltern väterlicherseits, der "Zuhube Tobai". Das Haus in Klagenfurt war beschlagnahmt, da eine Untersuchung gegen den Vater wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft und seiner Funktion als Wehrmachtsoffizier lief. Ihrer Mitgliedschaft im "Bund Deutscher Mädchen" wegen wurde Bachmann von Hamesh im Büro der "Field Security Section" der 8. Britischen Armee in Hermagor befragt.

Jack Hamesh, geboren um 1920 als Jakob Fünfer in Wien, war 1938 mit einem Kindertransport nach England gekommen. Seine Familie war in Konzentrationslagern umgekommen. Er verkörperte ein Österreich, das der jungen Ingeborg Bachmann durch Lektüre und geistige Interessen nahe war, zugleich trennten sie ihre familiären Hintergründe, denn Bachmann war die Tochter eines österreichischen NSDAP-Mitglieds der ersten Stunde. Dennoch entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden, die wesentlich über gemeinsame literarische Interessen vermittelt wurde. Jack Hamesh kam bald fast täglich auf Besuch zur Familie Bachmann, ging mit Ingeborg im Ort spazieren, was zu erheblichem Gerede führte. Und er besorgte der jungen Bachmann auch Lektüren, die ihr bisher nicht zugänglich waren, so Texte von Karl Marx.

Die Beziehung zu Hamesh trug sicherlich wesentlich dazu bei, dass Bachmann in ihrem Tagebuch vermerken konnte, "Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde - das wird der schönste Frühling und Sommer bleiben. Vom Frieden merkt man nicht viel, sagen alle, aber für mich ist Frieden, Frieden!" (Kriegstagebuch, S. 23)

Bald werden die Liebenden getrennt, Bachmann siedelt zum Wintersemester 1945/46 um nach Innsbruck (sie schreibt sich ein in Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte), Hamesh verlässt im Juni 1946 die britische Armee und Österreich, um sich in Palästina niederzulassen. Die Korrespondenz der beiden ist nur in elf Briefen von Jack Hamesh erhalten, die 2010 als Beigabe zu Bachmanns "Kriegstagebuch" veröffentlicht wurden. Sein letzter Brief stammt vom 16. Juli 1947. Über sein weiteres Leben ist nichts bekannt und verschollen sind auch Bachmanns Briefe an ihn.

Quelle: Ingeborg Bachmann, Kriegstagebuch, Ffm: Suhrkamp, 2011



Briefwechsel mit Hans Weigel

Erst seit der Veröffentlichung von Joseph McVeighs "Ingeborg Bachmanns Wien" 2016 haben wir eine genauere Vorstellung vom Briefwechsel Bachmann-Weigel. Denn dem amerikanischen Autor McVeigh wurde von den Bachmann-Erben ein bislang verschlossen gebliebener Einblick gewährt. Einen Einblick, den Bachmann selbst eher nicht gewährt hätte, schreibt sie doch am 20. Juni 1948 an Weigel, er möge in seinen Briefen mehr "Diskretion" wahren, "schon unserer Kinder wegen" - "ich hab solche Angst, wenn die einmal den Nachlass zusammensuchen und diese Briefe finden". Nun, wir dürfen davon ausgehen, dass McVeigh Diskretion walten ließ bei der Auswahl dessen, was er veröffentlichte.

Hans Weigel war neben Hermann Hakel, Rudolf Felmayer und anderen eine der Zentralfiguren des Wiener Literaturbetriebes, als er die 21jährige Ingeborg Bachmann am 5. September 1947 kennen lernte. Während seines Schweizer Exils hatte der 1908 in Wien geborene Weigel, Sohn einer jüdischen Familie aus Böhmen, den Plan zu einer "Gesellschaft der österreichischen Schriftsteller" gefasst, deren Aufgabe u.a. die Nachwuchsförderung sein sollte. Nach seiner Rückkehr 1945 bemühte er sich, dieses Programm umzusetzen. Eingesetzt hat er sich unter anderem für Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung". Weigels inoffizielles Büro wurde 1948 das Café Raimund beim Volkstheater, wo auch Ingeborg Bachmann häufig zu seiner Runde gehörte.

In einem Brief an Weigel vom 19. Juni 1948 bekennt Bachmann unverblümt, "daß ich mich auch zur geistigen weiblichen Elite zähl". Einige Tage später, am 23. Juni, schreibt sie an Weigel von einer Wendung ihres Charakters "zum Fatalismus". Und weiter: "Ich weiss gar nicht, (...) ob da wirkliche Ursachen vorliegen, oder ob sich nur ganz allgemein psychogen furchtbare Dinge tun".

Die ersten Gedichtveröffentlichungen Bachmanns finden sich im Heft Nr. 1 - Dezember 1948/Januar 1949 - von Hermann Hakels Zeitschrift "Lynkeus". Hakel war Leiter der Jugendgruppe des P.E.N.-Clubs Österreich, den Weigel als kommunistisch unterwandert ansah. So lassen Briefe Bachmanns an Weigel von 1948 vermuten, dass dieser sie vor einem engeren Umgang mit Hakel gewarnt habe. Vor der Teilnahme an einer Wochenendveranstaltung Hakels fragt sie Hans Weigel, der gerade in den USA weilte, am 7. August 1948 gleichsam um Erlaubnis: "Bitte schreib mir ehrlich, ob Du es in Ordnung findest, ob es dir recht ist oder nicht".

Über einen längeren Aufenthalt zuhause bei den Eltern in Kärnten schreibt sie an Weigel am 19. Juni 1950: "Abends geh ich gern auf eine halbe Stunde ins Wirtshaus, wo ich zum Entsetzen der Bauern - Frauen werden dorthin überhaupt nicht mitgenommen - zünftig rauche und Bier hinunterstürze, angetan mit meiner langen grauen Hose."

Aufschlussreich für das Verhältnis Weigel-Bachmann ist auch Weigels literarisch unerheblicher autobiographischer Roman "Unvollendete Symphonie", erschienen bereits 1951. Der Roman wurde von Weigel als "Aufzeichnungen eines jungen Mädchens in Wien" konzipiert, ihr väterlicher Partner heißt im Roman "Peter Taussig", das schriftstellernde Mädchen wird als "sein Geschöpf" bezeichnet. Das "junge Mädchen" ist kaum verschlüsselt als Ingeborg Bachmann zu erkennen. Und im Nachwort erklärt Weigel diesen Bezug auch offen. Ingeborg Bachmann schrieb am 2. Februar 1951 an Weigel: "Ich bin so neugierig auf mein Buch, das du schreibst, es ist dir hoffentlich klar, dass es von mir zensuriert wird." Ob Bachmann tatsächlich Einfluss auf den Inhalt des Buches nehmen durfte, ist nicht bekannt. Der Roman macht unter anderem die frühe NS-Mitgliedschaft des Vaters von Ingeborg Bachmann bekannt. McVeigh ist erstaunt, dass Bachmann nach diesem Roman nicht mit Weigel brach. Später bei Frisch reagierte sie anders. Vielleicht fühlte sie sich noch zu sehr von Weigels  Protektion abhängig. 1952 erschien ihr Gedichtzyklus "Ausfahrt" in Weigels Jahrbuch "Stimmen der Gegenwart". Da hatten die beiden sich allerdings schon nicht mehr viel zu sagen bzw. zu schreiben.

Aus dem Jahr 1953, dem Jahr des Weggangs Bachmanns aus Wien, ist ein gehässiges Schreiben Weigels an den Schriftsteller Herbert Eisenreich erhalten, worin er unter anderem erklärt "Inge Bachmann spinnt grössenwahnsinnig". Und als sie sich 1958 in Deutschland gegen die Stationierung von Atomwaffen engagiert, erhält sie von Weigel einen "Offenen Brief" mit der paternalistischen Kritik: "Sag mal Inge, was ist Dir da eingefallen? Bist Du ganz und gar von Gott verlassen?" Als "Gast" in Deutschland und "noch dazu als Dame" müsse sie doch "wenigstens ein Minimum an Takt und Zurückhaltung" wahren. Bachmann hat darauf nie geantwortet.

Quelle: Joseph McVeigh, Ingeborg Bachmanns Wien, Berlin: Insel-Verlag, 2016



Herzzeit


Im Mai 1948 lernte Ingeborg Bachmann in Wien Paul Celan (1920-1970) kennen und es beginnt eine lebenslange Beziehung mit dem "surrealistischen Lyriker", der sich "herrlicherweise" in sie verliebt habe, wie sie den Eltern in einem Brief bekannte. Im Juni 1951 endet die erste Phase der Beziehung, Paul Celan fordert von Ingeborg Bachmann einen Ring zurück, den er ihr im Jahr davor geschenkt hatte, einen Ring aus dem Familienbesitz. Briefe und Notizen wechseln die beiden weiterhin, doch nach dem Widmungsexemplar von "Die gestundete Zeit", geschickt im Dezember 1953, herrscht weitgehendes Schweigen. Im Oktober 1957 kommt es erneut für etwa ein Jahr zu einer engeren Beziehung. Der Briefwechsel wird nun wieder intensiv, läuft aber 1961 weitgehend aus, mit einigen nicht abgeschickten Briefen. Die beiden letzten erhaltenen Briefe Celans an Bachmann sind von 1963 und 1967. 1970 starb Paul Celan von eigener Hand in Paris, ertrunken in der Seine. 1971 schrieb Ingeborg Bachmann in "Malina" ihren Nachruf auf Celan: "Mein Leben ist zu Ende, denn er ist auf dem Transport im Fluß ertrunken." Im Oktober 1973 starb Bachmann in Rom an Brandverletzungen und Arzneimittelmissbrauch.

Ursprünglich war der Briefwechsel von den Celan-Erben bis 2031 gesperrt. Die dann doch bereits 2008 erschienene Briefsammlung "Herzzeit" enthält neben dem Briefwechsel Celan-Bachmann (196 Schreiben) auch die Briefe zwischen Paul Celan und Max Frisch, mit dem Bachmann 1958 bis 1962 zusammen war, sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle de l'Estrange, mit der Celan vom 21. Dezember 1952 bis zu seinem Tod verheiratet war. Das Ehepaar Celan hatte zwei Söhne, Francois, der 1953 kurz nach seiner Geburt starb, und Eric, 1955 geboren, auf den in den Briefen allerdings nur knapp Bezug genommen wird. So bietet Celan am 10.08.1959 im Kontext der Pläne Bachmanns, im Auftrag von SDR und NDR eine Flugreise "in 80 Tagen um die Welt" zu unternehmen und darüber zu schreiben, Bachmann humorvoll an, Eric könne ihr einen Elefanten zeichnen, sie müsse nicht "soundsoviel Stunden Südsee und Elefanten" im Eildurchlauf sehen. Im gleichen Brief hatte er zuvor Bachmann davon abgeraten, die Frankfurter Poetik-Dozentur anzunehmen. Damit wolle das "bundesrepublikanische() Protzentum" nur sich die Dichtung "an den Hut" stecken.

Schmerzlich wie lange Passagen dieses Briefwechsels voller Mißverständnisse, Verletzungen und Entschuldigungen, Erklärungen ist auch sein Ende in Schweigen. Das letzte Schreiben Bachmanns im Dezember 1961 ist ein förmlicher Weihnachtsgruß an Paul Celan und seine Frau Gisèle, gemeinsam unterzeichnet von "Ingeborg" und "Max Frisch". Im Schreiben davor, vom 5. Dezember, klagt sie "es ist seit langem schon wie eine Krankheit, ich kann nicht schreiben, bin schon versehrt, wenn ich das Datum hinsetze oder das Blatt in die Maschine ziehe". Ähnlich erklärt sie ein längeres Schweigen Anfang der 1960er Jahre gegenüber Hans Werner Henze in einem Brief an diesen vom 04.01.1963: "ich habe nämlich wirklich oft angefangen, wollte mir ein paar Worte herausquälen aus meiner Stummheit, aber es ist nicht gegangen".

Quelle: Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit. Ffm: Suhrkamp, 2008



Briefe einer Freundschaft

Hans Werner Henze (1926-1912) begegnete Ingeborg Bachmann zum ersten Mal auf einer Herbsttagung der Gruppe 47 auf Burg Berlepsch, 31.10. bis 2.11.1952. Noch auf der Tagung schickte Henze dem "lieben fräulein bachmann" eine erste briefliche Notiz, mit dem Angebot, sie im Wagen mit nach Köln zu nehmen - was sie akzeptierte. Im Frühsommer 1953 reiste  Henze für unbestimmte Zeit nach Italien, mietete sich auf Ischia ein und bestürmte Ingeborg Bachmann, doch zu ihm zu kommen. Am 9. August 1953 traf Bachmann bei Henze ein, wo sie bis Mitte Oktober blieb. Henze sah in Bachmann seiner Autobiographie zufolge etwas wie seine "große Schwester", zugleich fühlte er sich offenkundig verantwortlich für die künstlerische Entwicklung der Autorin, ermahnte sie zu disziplinierter literarischer Arbeit und kritisierte ihre häufigen Erschöpfungen. In einem Brief nennt er sie aus dieser Perspektive auch einmal "meine brave kleine gute Schwester". Bachmann war wenige Tage älter als Henze, beide sind 1926 geboren, Bachmann am 26. Juni, Henze am 01. Juli. Beider Väter waren Lehrer.

Die Sammlung "Briefe einer Freundschaft" erschien 2004. Sie enthält 219 Briefe, Karten und Telegramme Henzes, jedoch nur 33 Briefe Bachmanns. Wie Henze in seinem freimütigen Vorwort zur Sammlung als "wirklich beschämend und unverzeihlich" bekennt, gingen bei seinen zahlreichen Umzügen "einige" Briefe Bachmanns an ihn verloren. Das Verhältnis mit Ingeborg Bachmann benennt er in diesem Vorwort als "gegenseitige(), geschwisterliche() Zuneigung". Die Sammlung bietet zunächst (S. 11-292) die gesamte Briefsammlung auf Deutsch (also im deutschen Original sowie in - durch Helldruck markierten - Übersetzungen eventueller fremdsprachiger Briefstellen und Briefe) und dann für sich in Originalsprache "Italienische, französische und englische Briefe und Briefstellen" (S. 293-401). Sehr hilfreich sind die umfangreichen Anmerkungen zu den Briefen (S. 433-526) und das Personen- sowie das Werkregister.

Die Briefe sind durch eine biographische Zäsur gruppiert in zwei Blöcke, die Briefe aus der Zeit des Zusammenlebens auf Ischia und in Neapel bis zum April 1957 und die Briefe danach. Im April 1957 verlässt Bachmann die gemeinsame Wohnung mit Henze (die primär Henzes Wohnung war) in Neapel endgültig, die Briefe 92 bis 94 dokumentieren die Zäsur, von Bachmann in Brief 92 in einer ex-negativo-Geste mit dem Selbstmordmotiv eröffnet, von Henze in Brief 94 geschlossen in dem bitteren Bekenntnis "ich habe begriffen, dass Du es nicht mit mir aushältst". Und er klagt, "I get furious really by thinking that you do all these crazynesses only because I happen to be queer". In den Briefen davor dominiert ein liebevoller bis werbender, oft exaltierter, offenherziger bis koketter Ton. Danach werden die Briefe ernster, entschiedener. Freundschaftliche Sorge um den anderen, politische Themen (etwa der gemeinsame Protest gegen die atomare Wiederbewaffung der Bundesrepublik 1958), Alltagsprobleme und Arbeitsthemen tauchen vermehrt auf.

Das letzte Schreiben Henzes an Bachmann ist ein Telegramm vom 16.12.1972 aus New York. Darin bittet er sie, Weihnachten mit ihm in Marino bei Rom zu verbringen, in Henzes Villa "La Leprara", wo er seit 1961 überwiegend lebte. Bachmann blieb die Feiertage über jedoch im Gefolge eines Streiks ohne Finanzmittel in ihrer Wohnung in Rom, an Silvester brachte ihr die Schwester Isolde Moser Geld von der Familie und die beiden feierten gemeinsam ins neue Jahr.

Quelle: Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze, Briefe einer Freundschaft. München/Zürich: Piper, 2004



"schreib alles was wahr ist auf"

Der Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger (1929-2022) ist 2018 bei Suhrkamp erschienen, gefördert vom Bundeskanzleramt Österreich. Die Korrespondenz beginnt mit einem Schreiben Enzensbergers vom 27. November 1957, das auf voraufgegangene Gespräche Bezug nimmt und die Anrede "liebe ingeborg" wählt. Kennengelernt hatten sich die beiden bereits im Oktober 1955 auf einer Tagung der Gruppe 47 bei Tübingen (Schloss Bebenhausen). Im Sommer 1959 zieht Enzensberger mit Frau und Tochter in ein Haus bei Rom, in der kleinen Gemeinde Lanuvio. Bachmann kam für einige Wochen zu Besuch. Nach dieser Zeit gab es einen postlagernden Briefwechsel, unter dem Codewort "Tasso". 1960 bat Bachmann Enzensberger, diese Briefe zu vernichten. Sie sind im vorliegenden Band nicht enthalten. Ein Schreiben Enzensbergers vom 21.08.1959 nimmt allerdings Bezug auf diese verborgene Korrespondenz.

Der publizierte Briefwechsel wird von Enzensberger fast durchgängig in Kleinbuchstaben geführt (bezeichnende Ausnahmen: der Brief zum Geburtstag von Nelly Sachs, 02. Juni 1961, und ein Brief in Majuskeln vor dem 17. Juli 1968, der letzte Brief Enzensbergers an Bachmann), er unterschreibt von Anbeginn mit "mang" und wird von Bachmann auch entsprechend angeschrieben, allerdings in Normalschrift. Spielerisch-polyglott werden in den Schriftwechsel im Fortschreiten immer wieder fremdsprachige Wendungen eingefügt, eher formelhaft, zumeist am Briefende, etwa "Tante cose! Auguri per tutta la casa e per il tuo lavoro." "vive nous" "sine praaesumptione sed amice dixi. valete!" "supplicandoti & abbracciandoti". Oder eingestreut in den Text, ein "three cheers for the kissinger boys" von Enzensberger, ein "in my opinion", "per  l'amor di Dio" oder "lasciamo perdere" von Bachmann. Gelegentlich erscheinen auch längere italienische Passagen.

Der Briefwechsel ist zum einen als Dokument einer außergewöhnlichen Freundschaft im intellektuellen Milieu der 1960er Jahre (mit Vor- und Nachlauf) bedeutsam, zum anderen als eine Dokumentation dessen, was sich in diesem Milieu an Treffen, Intrigen, Vernetzungen, Verletzungen, Aktionen und Publikationen tat. Viel ist besonders zu erfahren über das Projekt "Gulliver", in den Briefen selbst und im informations- und materialreichen Nachwort. Das Verzeichnis der in den Briefen genannten Personen aus der Kulturgeschichte und der Zeitgenossenschaft ist lang, es reicht von Achmatowa, Adenauer und Adorno bis Yeats, Zuckmayer und Zwingli. Der Briefwechsel erlaubt auch vielfältige Einblicke in Werk und Leben der Ingeborg Bachmann. Am 18.10.1960 schreibt sie vom "Kinderglauben an die Literatur". Und im Mai 1968 äußert sie im Entwurf zu einem Brief an Enzensberger: "An die ganze Gedichtschreiberei glaube ich sowieso nicht".

Der letzte Brief stammt von Ingeborg Bachmann, ein nicht abgeschickter Entwurf aus Rom, Oktober/November 1972, zu Enzensbergers Roman "Der kurze Sommer der Anarchie" (den Bachmann "(d)eine Dokumentation" nennt). Allerdings gab es davor schon Schweigen nach einer Ansichtskarte von Enzensberger aus Tjøme vom 31. Juli 1968. Es scheint im Kontext der Veröffentlichung von vier Bachmann-Gedichten in Enzensbergers "Kursbuch" 15, November 1968, zu Verstimmungen gekommen zu sein. Sehr lesenswert ist hierzu ein gleichfalls nicht abgeschickter Entwurf Bachmanns zu ihren Kursbuch-Gedichten, vermutlich im Mai 1968 geschrieben, mit dem oft (allerdings nicht vollständig) zitierten Satz: "Wenn ich sie mir allesamt anschaue, dann weiss ich, dass Böhmen das beste Gedicht ist, dass ich je geschrieben habe, und wenn ich es vorlese, dann weiss ich (es) hundertmal besser."

Quelle: Ingeborg Bachmann/Hans Magnus Enzensberger, "schreib alles was wahr ist auf", Piper/Suhrkamp, 2018



Italienische Korrespondenz


Nach der Kindheit in Kärnten und dem Studium in Innsbruck, Graz und Wien lebte die Autorin überwiegend in Italien. Dabei kam es zu Bekanntschaften, Freundschaften und auch Liebesbeziehungen, die sich in Korrespondenzen widerspiegeln, die bislang unveröffentlicht blieben. Arturo Larcati berichtet in seinem Essay "Ingeborg Bachmanns italienische Korrespondenz" über die Briefwechsel Bachmanns mit ihren italienischen Freunden und Bekannten. Für 2019 sei die Veröffentlichung dieser Korrespondenz als eigener Band der Salzburger Werkausgabe (Piper/Suhrkamp) geplant. Wie Larcati 2016 mitteilte, hänge ein Gelingen dieses Projektes wesentlich davon ab, wie weit italienische Briefpartner bzw. deren Erben mit der Veröffentlichung einverstanden seien.

Laut Larcati könnte die italienische Korrespondenz der Autorin einen Schlüssel dazu bieten, "Bachmanns Biographie und ihr(en) Werdegang als Autorin" adäquater zu erfassen (Larcati 2016, S. 35). Bachmann selbst habe sich, gerade mit ihren Briefen, in einer Tradition des europäischen Kulturaustausches "zwischen Paris und Capri, Duino und Zürich, London und Berlin" gesehen. So organisierte Bachmann 1954 wichtige Elemente der Herbsttagung der Gruppe 47 in Capo Circeo bei Rom. Sie fungierte auch als Ansprechpartner der italienischen Literaturszene für die Beschäftigung mit deutschsprachiger Gegenwartslyrik. Als wesentliche Briefpartner der ersten Jahre in Rom 1954-1957 nennt Larcati Luigi Nono, Nanni Balestrini und Marguerite Caetani. Dabei standen gemeinsame künsterische Projekte im Vordergrund. So überzeugte Bachmann Luigi Nono 1953 davon, an einer Vertonung der Celanschen "Todesfuge" zu arbeiten. Es blieb allerdings bei Skizzen zu einer Kantate.

Die Korrespondenz mit der Amerikanerin Marguerite Chapin, Ehefrau des Prinzen von Bassiano und letzten Herzogs von Sermoneta, Roffredo Caetani, Herausgeberin der 1948 begründeten Literaturzeitschrift "Botteghe Oscure" (in der Römischen "Via delle Botteghe Oscure" stand der Palazzo Caetani, Sitz der Redaktion), umfasst mehr als 50 Briefe aus der Zeit 1953 bis 1958. Texte Bachmanns wurde regelmäßig in Caetanis Zeitschrift veröffentlicht, zuletzt 1959 die Erzählung "Jugend in einer österreichischen Stadt". 1960 musste die Zeitschrift aus finanziellen Gründen das Erscheinen einstellen, 1963 starb Marguerite Chapin/Caetani, 83jährig.

Den Lyriker Nanni Balestrini, geboren 1935, der Vater Chemieunternehmer in Mailand, die Mutter aus Köln, lernte Bachmann 1957 kennen. Ende 1955 hatte ihr Henze bereits einige Gedichte seines Freundes zugeschickt, die sie in einem Schreiben an Henze vom 31.12.1955 verhalten kommentierte. 1957 erbat Balestrini von Bachmann das Recht zur Publikation einiger ihrer Texte im Rahmen einer kleinen Anthologie in der Zeitschrift "Il Verri". Bachmann empfahl ihm als weitere Repräsentanten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur Paul Celan, Karl Krolow und Heinz Piontek. Balestrini gilt als wichtiger Protagonist der Neoavantgarde in Italien. Bachmann selbst beurteilte die Sprachexperimente der Neoavantgarde in ihren Frankfurter Vorlesungen 1959/60 kritisch. Ab 1971 trat Balestrini als politischer Autor in Erscheinung, zunächst mit "Vogliamo tutto". Der Kontakt mit Bachmann war da längst abgebrochen.

Quelle: Arturo Larcati, Ingeborg Bachmanns italienische Korrespondenz. In: Ders. u.a., Ingeborg Bachmann in aktueller Sicht: Perspektiven der Forschung, 2016



Male oscuro/Helmut Schulze


2017 erscheint der Briefe- und Aufzeichnungsband "Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit", als erster Band der neuen Salzburger Bachmann Edition bei Suhrkamp. Er enthält unter anderem sieben Briefe Ingeborg Bachmanns an ihren Psychotherapeuten Helmut Schulze in Baden-Baden, zwei Entwürfe einer Rede an die Ärzteschaft sowie Traumprotokolle aus den Jahren 1962 bis 1973. Die Texte entstanden in einer Lebensphase, die bestimmt war durch massive gesundheitliche (psychische wie physische) Störungen sowie Alkohol- und Medikamentenmissbrauch.

Im Sommer 1962 lernte Max Frisch, seit 1958 mit Ingeborg Bachmann liiert, Marianne Oellers kennen, die ihn ab 1963 auf Reisen begleitete und die er 1968 heiratete. Ende 1962 wurde für Ingeborg Bachmann unabweisbar, dass Max Frisch sich von ihr trennen würde. Wie "Male oscuro" nun erweist, war sie in dieser Zeit schwanger. Die Ärzte rieten aus medizinischen Gründen vom Austragen der Frucht ab, wollten zunächst aber wegen des Alkohol- und Medikamentenkonsums der Schwangeren keine Abtreibung durchführen. Am 10. Dezember 1962 unternahm Bachmann einen Selbstmordversuch. Dezember 1962/Januar 1963 wurde in einem Züricher Krankenhaus den vorhandenen Zeugnissen zufolge wohl die Gebärmutter entfernt. In der Forschung wird die bis zum Tod 1973 anhaltende seelische und oft genug auch körperliche Krise der Autorin als Folge der Trennung von Max Frisch erklärt. In einem Briefentwurf an Helmut Schulze von 1965/66 schreibt Bachmann jedoch: "Wäre bloß Herr F. mein Unglück, das wäre zu ertragen. Aber es reicht ja weiter. Er ist bloß die Stellvertretung für eine Mentalität, die ich verabscheue, an der ich nicht zugrunde gehen möchte, so nicht, obwohl ich meistens denke, ich bin schon tot." ("Male oscuro", S. 72)

Ihre Auseinandersetzung mit den eigenen psychischen Problemen und der Leidensgeschichte mit Ärzten und Krankenhäusern spiegelt sich in den beiden Entwürfen zu einer "Rede an die Ärzteschaft" (so von der Forschung betitelt) in Anlehnung an Kafka. Bei einer nächtlichen Krise auf der Prag-Reise mit Adolf Opel habe ein Arzt der Poliklinik ihr, "nach zwei Stunden Untersuchung, die Wahrheit gesagt". Sie nennt diese für sie befreiende Wahrheit nicht explizit, aber wenig davor erwähnt sie "diese Krankheit, nein, sagen wir es schon, die Neurose". Und am Ende dieser "Rede" bekennt sie: "ich bin durch viele Behandlungen gegangen, aber die erste richtige Diagnose ist eine Erlösung." Dazu gibt sie zweimal eine identische Zeitangabe, die durchaus biographisch verstanden werden darf: "Muß einer wirklich vier Jahre leiden, über alle Maßen, bloß damit am Ende jemand herausfindet, warum er leidet." (S. 90) Und später: "Aber nichts, gar nichts ist dem vergleichbar, diesem entsetzlichen Schmerz, an dem ich seit vier Jahren leide." (S. 92) Im Kommentar dazu wird angenommen, dass damit die Spanne 1962 bis 1966 gemeint sei (S. 133).

Quelle: Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit, Suhrkamp, 2017



Briefwechsel mit Max Frisch

Lange unveröffentlicht blieb in zwei Nachlässen der Briefwechsel Ingeborg Bachmanns mit Max Frisch (1911-1991) - etwa 250 Briefe Bachmanns an Frisch sowie Kopien der Briefe Frischs an Bachmann im Max-Frisch-Archiv Zürich (von Frisch gesperrt auf 20 Jahre nach seinem Tod, 2011 wurde dies bekannt gemacht), sowie etwa 80 Briefe Frischs an Bachmann im Nachlass Ingeborg Bachmanns. Die Bachmann-Erben hatten noch der Biographin Ina Hartwig ("Wer war Ingeborg Bachmann?", 2017) den Einblick in diesen Briefwechsel verweigert. Sie respektierten damit den Wunsch Bachmanns, die einen großen Teil der Briefe Frischs an sie ab 1962 vernichtete und Frisch aufforderte, "niemals" die Briefe von ihr an ihn zu veröffentlichen.

Max Frisch war als Briefpartner Bachmanns bislang lediglich in den anderen Briefsammlungen präsent, insbesondere in der Sammlung "Herzzeit" zur Korrespondenz Bachmann-Celan. Dort aufgenommen sind auch 16 Briefe zwischen Paul Celan und Max Frisch. Zweifellos gab es auch Eifersucht von Seiten Frischs wegen Bachmanns Verbindung mit Paul Celan. Davon kündet schon ein Brief Bachmanns an Celan vom 08.02.1959. Darin schreibt sie, "er weiß, was Du mir bedeutest und wird es immer richtig finden, daß wir uns treffen, in Basel, oder Paris oder sonstwo, aber ich soll ihm nicht das Gefühl geben, daß ich Dir mit ihm ausweiche oder ihm mit Dir".

Die Briefe Bachmanns an ihren Psychotherapeuten Helmut Schulze, publiziert in "Male oscuro", entwerfen ein düsteres Bild der Persönlichkeit Max Frischs als Partner Ingeborg Bachmanns. Allerdings relativiert sie selbst dessen Rolle in ihrer Leidensgeschichte in einem Briefentwurf von 1965/66: "Wäre bloß Herr F. mein Unglück, das wäre zu ertragen. Aber es reicht ja weiter. Er ist bloß die Stellvertretung für eine Mentalität, die ich verabscheue, an der ich nicht zugrunde gehen möchte, so nicht, obwohl ich meistens denke, ich bin schon tot."

Angefangen hatte die Beziehung mit einem Brief Max Frischs aus dem Sommer 1958. Er lobte Bachmanns Hörspiel "Der gute Gott von Manhatten" in einem Schreiben an die damals bereits als Lyrikerin gerühmte junge Autorin, stellte die Bedeutung ihrer Arbeit heraus: "Wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau." Im Frühjahr 1963 erhält Bachmann eine erste Druckfahne von Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein". In der Figur der neurotischen, lebensunfähigen Schauspielerin Lila erkennt sie sich selbst wieder. Sie fühlt sich mißbraucht, verkannt und ausgebeutet. Ende 1964 schreibt sie an Frisch: "Das Buch, der Missbrauch eines Menschen, mit dem man fast fünf Jahre gelebt hat, als Studienobjekt, sind nicht ungeschehen zu machen".

Erst Ende 2022 konnte der Briefwechsel, unter dem Zitat-Titel "Wir haben es nicht gut gemacht", in einem Gemeinschaftsprojekt von Piper Verlag und Suhrkamp Verlag erscheinen, nachdem die Bachmann-Erben ihre Zustimmung gegeben hatten. Der Briefwechsel korrigiert die bisher in der populären Forschung dominierende klare Unterscheidung in Max Frisch als Täter und Ingeborg Bachmann als Opfer einer toxischen Beziehung.

Quelle: Ingeborg Bachmann, Max Frisch: "Wir haben es nicht gut gemacht". Der Briefwechsel. Piper/Suhrkamp, 2024


BIOGRAPHISCHES    


Biographie

Ingeborg Bachmann wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt/Kärnten geboren. Die Familie der Mutter besaß eine Strickwarenproduktion, ihr Vater Mat(t)hias kam aus einer österreichisch-slowenischen Bauernfamilie, war Lehrer, dann Direktor an einer Hauptschule und trat bereits 1932 der NSDAP bei (was erst 1999 in der Bachmann-Biographie von Hans Höller öffentlich wurde). 1946-1950 studierte Bachmann zunächst ein Semester in Innsbruck Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte, dann ein Semester in Graz Philosophie und Jura, schließlich in Wien Philosophie mit den Nebenfächern Germanistik und Psychologie. Sie promovierte am 23. März 1950 mit einer kritischen Arbeit über Heidegger, dem sie "Verführung" zum "deutschen Irrationaldenken" vorwarf. Mehr als Heidegger galt ihr Ludwig Wittgenstein, mit dessen Werk sie sich  zeitlebens auseinandersetzte. In Wien arbeitete sie von 1951-1953 beim amerikanischen Sender RWR, im Script Department, unter anderem an der Hörfunksendung "Die Radiofamilie" (15 von 351 Folgen). Auch später bestritt sie ihren Lebensunterhalt teilweise mit Mauskripten für Radiosendungen. Von einem Kollegen beim RWR, Peter Weiser, wurde sie als "kettenrauchende Meerfrau mit Engelhaar, die mehr flüsterte als sprach" bezeichnet.

1953 erhielt sie den Lyrik-Preis der Gruppe 47. Im gleichen Jahr erschien ihr Lyrikband "Die gestundete Zeit", der ihr im Folgejahr auch einen Spiegel-Titel eintrug. Trotz ihres frühen Erfolges blieb ihre Existenz finanziell ungesichert, zumal sie keinen haushaltenden Lebensstil pflegte. In den 1960er Jahren geriet sie, verstärkt durch die Trennung von Max Frisch Ende 1962, in Tabletten- und Alkoholabhängigkeit. 1964 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1973 entstand in ihrer Wohnung in Rom, ausgelöst durch eine Zigarette, ein begrenzter Brand. Ingeborg Bachmann erlitt Verbrennungen zweiten und dritten Grades und starb im Krankenhaus am 17. Oktober 1973. Der befreundete Komponist Hans Werner Henze initiierte gemeinsam mit Pierre Burk/Evrard eine Anzeige gegen Unbekannt wegen Mordes. Das Ermittlungsverfahren wurde im Sommer 1974 eingestellt mit dem Ergebnis, dass ein Fremdverschulden nicht nachgewiesen werden könne, dass vielmehr der Medikamenten- und Alkoholmissbrauch der Autorin für den Tod mit verursachend war.

In ihrem Nachlass befindet sich ein Meldezettel für eine Wohnung in Wien, Opernring Nr. 19, vom 20. November 1972. Ingeborg Bachmann hatte offensichtlich geplant, nach Wien zurückzukehren. Thomas Bernhard schreibt in "Auslöschung" 1986 über Ingeborg Bachmann, verborgen in der Figur "Maria": "Einmal hat sie zu mir gesagt, im Grunde will ich nach Wien zurück, dann aber, oft keine paar Minuten später, genau das Gegenteil, (...)". "Maria hat oft gesagt, daß sie in Rom sterben will, dachte ich."

Andrea Stoll verdanken wir die Mitteilung, dass Bachmann schon 1964, dann verstärkt Ende der 60er Jahre an den Kauf eines Kärntner Bauernhofes dachte als Rückzugsort. Die Familie hatte auch bereits ein geeignetes Objekt gefunden. Doch "ihre literarischen Freunde liefen Sturm bei dem Gedanken, die Weltbürgerin Bachmann an die österreichische Provinz zu verlieren", wobei insbesondere ihr neuer Verleger Siegfried Unseld aktiv wurde (Stoll 2015, S. 309, vgl. S. 282f).

Lektüreempfehlungen:
Andrea Stoll, Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit, btb 2015 (zuerst 2013)
Ina Hartwig, Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken, S. Fischer 2017



Männer

Sowohl die Beziehung zu ihrem Vater als auch die zu ihrem vierzehn Jahre jüngeren Bruder Heinz waren für Bachmann in besonderer Weise prägend. Beide sind als literarische Figuren in ihrem Werk auch erotisch besetzt, der Vater verbunden mit Gewaltphantasien - wobei literarische Notwendigkeiten nach Bachmanns eigenen Angaben bestimmend waren, nicht reale Erfahrungen.

Der frühe Text "Briefe an Felician" wird von der Forschung (nicht unwidersprochen) gelesen als Beleg für eine Schwärmerei der Neunzehnjährigen für den 36 Jahre älteren Josef Friedrich Perkonig, einen Kärntner Schriftsteller mit enger Verbindung zum Nationalsozialismus. Den Kontakt hatte der Vater Ingeborg Bachmanns hergestellt. Ihre wichtigsten Männerbeziehungen im engeren partnerschaftlichen Sinne waren die mit dem achtzehn Jahre älteren literarischen Mentor Hans Weigel (1947/48), die beunruhigende Liebesbeziehung mit Paul Celan (1948-1951, 1957/58), die freundschaftlich-künstlerisch dominierte Beziehung mit Hans Werner Henze (1952-1956), die emotional verstrickte mit Max Frisch (1958-1962) und, von der Forschung weniger beachtet, die betont sinnlich-erotische mit Adolf Opel (1964).

Wenig bekannt ist über die kurze Jugendliebe zwischen Ingeborg Bachmann und dem britischen Soldaten Jack Hamesh (bei Andrea Stoll "Hamish"), geboren um 1920 als Jakob Fünfer in Wien, in den Jahren 1945 bis 1947 (11 erhaltene Briefe, veröffentlicht in "Kriegstagebuch" 2010). Länger währte die gleichfalls wenig erhellte Freundschaft mit Pierre Burk alias Pierre Evrard, einem Pariser Journalisten, den Bachmann im Juli 1955 an der Harvard University kennen lernte und der noch während ihres zweiten Rom-Aufenthaltes in den Jahren vor ihrem Tod öfter bei ihr weilte. 1968 lernte Ingeborg Bachmann in Wien Thomas Bernhard persönlich kennen, den sie schon zuvor literarisch sehr schätzte. Es entwickelte sich, so die Biographin Andrea Stoll, "eine aufrichtige Freundschaft". In seinem Roman "Auslöschung" von 1986 gedenkt er ihrer in der Figur der "Maria, die Römerin sein will, gleichzeitig Wienerin".

Wie weit eine Liebelei mit Henry Kissinger 1955 ging (als Stipendiatin des "International Seminars" weilte Ingeborg Bachmann an der Harvard University), bleibt Spekulation. Öffentlich gemacht wurde sie als "strange relationship" durch Kissinger selbst 2016 in einem Gespräch mit der Bachmann-Biographin Ina Hartwig ("Wer war Ingeborg Bachmann", 2017). Eine andere "strange relationship" gab es mit dem homosexuellen amerikanischen Autor James Baldwin, der von Bachmann unverblümt - jedoch erfolglos - umworben wurde, wie zumindest Fritz J. Raddatz in seinen Tagebüchern berichtet.

An Paul Celan schrieb Ingeborg Bachmann in einem Brief 1951: "Ich liebe Dich und will Dich nicht lieben, es ist zuviel und zu schwer". Nach Celans Freitod 1970 in der Seine in Paris formulierte sie in ihrem Roman "Malina" eine Sequenz, die in der Forschung als Nachruf auf Celan gewertet wird: "Mein Leben ist zu Ende, denn er ist auf dem Transport im Fluß ertrunken, er war mein Leben. Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben." Zwei Jahre nach Celan starb ihr Vater, kurz darauf sie selbst.

Hans Werner Henze lernte Bachmann auf der Herbsttagung 1952 der Gruppe 47 auf Burg Berlepsch kennen. Am 9. August 1953 traf sie bei Henze auf Ischia ein, wo sie bis Mitte Oktober blieb. Der homosexuelle Komponist Henze sah in Bachmann seine "große Schwester", zugleich fühlte er sich offenkundig verantwortlich für die künstlerische Entwicklung der Autorin, ermahnte sie zu disziplinierter literarischer Arbeit und kritisierte ihre häufigen Erschöpfungen. Das Paar erwog mehrmals eine Heirat, wobei klar war, dass Henze auf sexuelle Beziehungen zu jungen Männern nicht verzichten wollte, was Bachmann nach eigenem Bekenntnis belastete. Mit Henze verband Bachmann die Abscheu vor der "Väterwelt" des Nationalsozialismus, der unbedingte Kunstarbeitswille und die Leidenschaft für das Musikalische.

In einem extremen Zusammenbruch November 1962 endete die 1958 begonnene Beziehung mit Max Frisch, der sich in eine 28 Jahre jüngere Frau verliebt hatte, die er später in zweiter Ehe heiratete, Marianne Oellers. Seit der Veröffentlichung von "Male oscuro" 2017 ist klar, dass Bachmann Ende 1962 - vermutlich von Frisch - schwanger war, das Kind aus medizinischen Gründen nicht bekommen konnte und einen Selbsttötungsversuch unternahm. Sie erwähnte in einem Brief an Henze vom 04. Januar 1963 eine auch "physische" Operation - damit konnte eine Abtreibung oder die Entfernung der Gebärmutter gemeint sein, die Quellenlage ist nicht eindeutig.

Anfang 1964 besuchte ein jüngerer Verehrer, Adolf Opel, Ingeborg Bachmann in ihrem Berliner Domizil. Bachmann war damals 37, Opel 28, beide geboren im Juni, sie im Zeichen des Krebses, er im Zeichen der Zwillinge. Er erzählte von Reiseplänen und Ingeborg Bachmann entschloss sich kurzerhand, ihn noch im Januar nach Prag zu begleiten. Im Sommer folgte eine gemeinsame Reise nach Ägypten. Ein Jahr später schreibt sie an Opel: "Ich denke wieder viel an die Wüste, an den Moment, wo mir das Lachen zurückgekommen ist."



Frauen

Über die Beziehung Bachmanns zu ihrer Mutter Olga geb. Haas (1901-1998) ist wenig bekannt. Etwas mehr wissen wir über die zwei Jahre jüngere Schwester Isolde. Sie begleitete Ingeborg Bachmann immer wieder in den verschiedenen Stadien ihres Lebens. In der ersten Wiener Zeit kommt sie oft zu Besuch, die erste Italienreise 1952 nach Positano südlich von Neapel (eine Empfehlung der Kollegen vom Sender Rot/Weiß/Rot) machen die beiden gemeinsam. Isolde Bachmann ist zuletzt als eigensinnige Nachlassverwalterin mit bestimmend für die Rezeptionsgeschichte geworden. Literarisch erscheinen jedoch weder Mütter noch Schwestern an exponierter Stelle im Werk Bachmanns - im Unterschied zu Vätern und Brüdern. Isoliert steht das Gedicht "Abends frag ich meine Mutter" von 1948, nur fern flankiert von "Beweis zu nichts" (1953). Und im Roman "Malina" erscheinen Mutter und Schwester zwar auch in den Träumen der Ich-Erzählerin, jedoch eher als Staffage der Vaterfigur. Lediglich die wenig beachtete Erzählung "Drei Wege zum See" entwickelt eine, wenngleich abwesende, prägnantere Mutterfigur.

In Wien spielte neben Hans Weigel auch eine Frau, die Journalistin Bobbie Löcker, eine maßgebliche Rolle für die Förderung der jungen Autorin. Von März 1949 bis Juli 1953 wohnte Ingeborg Bachmann bei ihr zur Untermiete in der Gottfried-Keller-Gasse. Eng befreundet war Bachmann in Wien ferner mit der nur wenige Jahre älteren Journalistin und Fotografin Inge Morath, es gab sogar Pläne, gemeinsam eine Wohnung zu nehmen.

1947 lernte Bachmann die fast fünf Jahre ältere Ilse Aichinger kennen, die gerade eine Buchmanuskript verfasst hatte, "Die größere Hoffnung". Die Verlegerin Brigitte Fischer (in deren Verlag "Die größere Hoffnung" dann erschien) berichtet von "zwei jungen Mädchen", die "etwas verlegen lächelnd vorbeihuschten" bei einem ersten Treffen in Wien 1948. In einem Brief an Weigel vom 30. August 1948 schreibt Bachmann während der Arbeit an ihrem eigenen ersten Roman: "Die Ilse war eben bei mir, Gott, sie hat so ein wunderbares Fluidum, ich glaub, ich werd heute wieder was arbeiten können, ich glaub, wenn ich sie hier und da sehen tät, hätt ich mehr davon, als von meinen sämtlichen Herren." Die beiden "jungen Mädchen" entwickelten sich dann sehr unterschiedlich und Aichinger äußert sich später distanziert und kritisch über Bachmann: "Ach, die Bachmann! Die ist so feminin, so ungeheuer ergeben. Sie kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass es auch biologische Revolte, Anarchie gibt." Und zum Zyklustitel "Todesarten" meint Aichinger "Der Titel ist falsch wie das meiste, was sie geschrieben hat".

Die erste Begegnung mit der 25 Jahre älteren Marie Luise Kaschnitz fand 1954 in Rom statt. Daraus wurde eine fortdauernde Freundschaft. Von Kaschnitz erfuhr Bachmann Trost und auch gelegentlich finanzielle Zuwendung. Verhängnisvoll wurde die 1964 begonnene Bekanntschaft mit der Schweizer Arztgattin Heidi Auer, die gemeinsam mit ihrem Mann Fred Auer die Schriftstellerin bis zu ihrem Tod mit Psychopharmaka (vor allem "Seresta", Wirkstoff Oxazepam) versorgte.

Im Werk erscheinen Frauen als Protagonistinnen, deren Gegenspieler zumeist Männer sind, nicht andere Frauen. Eine bedeutsame Ausnahme ist "Charlotte", die Hauptfigur der Erzählung "Ein Schritt nach Gomorrha" (in der Sammlung "Das dreißigste Jahr", 1961). Schon der Titel deutet an, wie die Autorin das hier gewählte Thema einordnet, als biblische Gefährdung. "Charlotte sah Frauen gerne an; sie rührten sie häufig oder sie erfreuten ihre Augen, aber sie vermied, wo es ging, Gespräche mit ihnen." Von der Protagonistin heißt es ferner "Der Hochmut, auf ihrem eigenen Unglück, auf ihrer eigenen Einsamkeit zu bestehen, war immer in ihr gewesen". Nach langer Abwehr lässt sie sich auf eine gleichgeschlechtliche Beziehung ein, die endet mit "Sie waren beide tot und hatten etwas getötet."



Geschwister

Ingeborg Bachmann hatte eine jüngere Schwester, Isolde, 1928 geboren, verheiratete Moser, und einen weit jüngeren Bruder Heinz, 1940 geboren, Geophysiker, mit einer Britin verheiratet und im Erdölgeschäft tätig.

Die Schwester teilte eine kurze Zeit das Leben der Schwester als Studentin in Wien, war öfter dort zu Besuch, wurde von Ingeborg Bachmann auch in die Literaten- und Intellektuellenzirkel Wiens eingeführt. Auch danach blieben sich die Schwestern verbunden, wobei die jüngere eine Vermittlungsrolle zwischen der Autorin und den Eltern einnahm. So sollte sie 1970 den Vater auf die Veröffentlichung von "Malina" und die problematische Vaterfigur in diesem Roman vorbereiten. Silvester 1972 brachte Isolde Geld von den Familie für die Schwester nach Rom, als diese in finanziellen Schwierigkeiten war wegen eines Streiks in Italien.

Bruder Heinz verdanken wir bemerkenswerte Fotografien der Schwester, die er bei einem Rombesuch mit den Eltern Ostern 1962 machte, darunter das berühmte "Spiegelbild". Aufgenommen hat er die Bilder mit einem Weihnachtsgeschenk des Vater von 1961, einer neuen Agfa Spiegelreflexkamera. Die Schwester habe ihm in Rom drei Schwarz-Weiß-Filme in die Hand gedrückt und darum gebeten, sie zu fotografieren, da sie mit den Pressefotos nicht zufrieden gewesen sei. Zu sehen sind die (bereits zum großen Teil vom Piper-Verlag in Publikationen verwendeten) Fotografien im Literaturhaus Salzburg vom 11. Januar bis zum 03. April 2020, gemeinsam mit der Kamera. Heinz Bachmann ist Besitzer des Elternhauses in Klagenfurt, in welchem sich noch immer ein Teil des Nachlasses befindet, verwaltet von der Schwester Isolde. Ein Teil davon kam 2018, über Andreas Moser, den Sohn Isolde Mosers, zur Versteigerung. 2021 verkaufte Heinz Bachmann das Elternhaus an eine Privatstiftung zur Einrichtung eines Bachmann-Museums, das im Juni 2024 eröffnet wurde.

Die germanistische Forschung und das Feuilleton hatten und haben zu den Bachmann-Geschwistern ein problematisches Verhältnis. Vor allem die Schwester Isolde fand in der Vergangenheit wenig Verständnis, ließ sie doch den Bachmann-Nachlass lange Jahre fast vollständig sperren - mit stillschweigender Zustimmung des Bruders. Einige Lockerungen gab es nach der Jahrtausendwende, doch der Briefwechsel mit Max Frisch sollte bis zum juristisch letztmöglichen Zeitpunkt 2025 unter Verschluss bleiben. In einem Beitrag vom 05. Oktober 2000 schreibt die "Zeit" mit einem indirekten Karl Kraus-Zitat von der "Familienbande", die im Falle Ingeborg Bachmann "jede ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Werk behinderte". "Wichtigtuerin" nannte die ZEIT Isolde Moser, ähnlich wurde später auch der Bruder bisweilen charakterisiert, als er mit der Lesung Bachmannscher Gedichte an die Öffentlichkeit trat. 2022 wurde der Briefwechsel mit Frisch dann doch freigegeben, er erschien in einem Gemeinschaftsprojekt von Piper Verlag und Suhrkamp Verlag.



Krankheiten


In den ersten Wiener Jahren entwickelt Bachmann ihrer Biografin Andrea Stoll zufolge "ein Verhaltensmuster, das sie in den kommenden Jahren weiterentwickeln und zur Verzweiflung ihrer Freunde und Lebensgefährten perfektionieren würde. Sie wurde krank oder täuschte Krankheiten und Unpässlichkeiten vor, kündigte Verabredungen in letzter Minute auf und ließ sich dabei nie in die Karten blicken." (Stoll 2013, S. 84) Dass indes auch ernsthafte Gesundheitsprobleme bereits in den Wiener Jahren auftraten, scheint offenkundig. Ingeborg Bachmann besuchte in Wien Vorlesungen des Neurologen und Psychologen Viktor Frankl und ließ sich von diesem privatissimum Ratschläge bei Schreibhemmungen oder sonstigen psychischen Problemen geben (McVeigh 2016, S. 53ff). Im Sommer 1950 verschrieb Frankl ihr Medikamente gegen Asthma. Eine weitere bekannte frühe gesundheitliche Einschränkung war die extreme Kurzsichtigkeit der Autorin von -13 Dioptrin.

Der Briefe- und Aufzeichnungsband "Male oscuro" von 2017 trägt den Untertitel "Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit". Gemeint ist damit die Zeit von der Trennung von Max Frisch bis zum Tod der Autorin. Allerdings verweist uns Ingeborg Bachmann selbst darauf, dass es zu kurz greife, ihre Krankheit lediglich auf diese Zeitspanne zu beziehen. An ihren Psychotherapeuten Helmut Schulze schreibt sie in einem Briefentwurf aus dieser Zeit: "Wäre bloß Herr F. mein Unglück, das wäre zu ertragen. Aber es reicht ja weiter. Er ist bloß die Stellvertretung für eine Mentalität, die ich verabscheue, an der ich nicht zugrunde gehen möchte, so nicht, obwohl ich meistens denke, ich bin schon tot." ("Male oscuro", S. 72).

Dabei sollte nicht übersehen werden, dass es konkrete Krankheitsbilder gab, die mit dem "Herrn F." und der "Mentalität" verbunden waren, aber durch früh etablierte Gewohnheiten der Autorin selbst massiv verstärkt wurden. Ihr Zigaretten- und Alkoholkonsum war schon in ihrer Wiener Zeit gesundheitsgefährdend, während der Zeit mit Frisch und danach nahm auch ihr Tablettenkonsum kritische Dimensionen an. Dazu kam eine Schwangerschaft Ende 1962, die ihrer Alkoholsucht wegen abgebrochen werden sollte, was dann allerdings von den Ärzten nach einer Risikoabwägung zunächst nicht vorgenommen wurde. Am 10. Dezember 1962 kam es zu einem Selbstmordversuch mit anschließendem Krankenhausaufenthalt. Mitte Januar 1963 wurde in einem Züricher Krankenhaus die Gebärmutter entfernt.



Neurose


Im ersten Teil des Entwurfes einer "Rede an die Ärzteschaft" (so von der Forschung genannt), veröffentlicht in "Male oscuro", berichtet Bachmann von Krankenhausaufenthalten Ende 1962 im Gefolge eines Selbstmordversuches und von einer Operation 1962/1963 - siehe "Male oscuro" Seite 83 und Brief an Henze vom 4. Januar 1963 (nach "Male oscuro" vom 4. Februar 1963). Der Brief an Henze ist im Blick auf die Krankengeschichte der Autorin ein besonders bemerkenswertes Dokument. Doch treten Selbstmordversuch und Operation sofort in den Hintergrund mit der Erklärung, nun "sui miei piedi" (auf meinen eigenen Füßen) zu stehen und "di sperare un po" (ein wenig zu hoffen). Im Fortgang des Briefes steht dann die Trennung von Frisch im Fokus, wobei sie den Begriff "Eifersucht" zurückweist, "non è gelosia, e tutt'un altra cosa" (es ist nicht Eifersucht, sondern etwas völlig anderes). Sie möchte Frisch ausdrücklich keine Schuld ("colpa") geben, erklärt aber abschließend: "ma il fatto è che sono ferita a morte e che questa separazione è il piu grande fiasco della mia vita" (Tatsache ist, dass ich tödlich verletzt bin und dass diese Trennung die größte Niederlage meines Lebens bedeutet). Der ganze relevante Passus im Brief an Henze ist auf Italienisch abgefasst.

Im zweiten Teil des "Rede"-Entwurfs berichtet Bachmann von einem Besuch in der Prager Poliklinik während einer nächtlichen Krise auf der Pragreise mit Adolf Opel im Januar 1964. Dort habe ihr ein Arzt, "nach zwei Stunden Untersuchung, die Wahrheit gesagt". Sie nennt diese für sie befreiende Wahrheit nicht explizit, aber einige Zeilen davor erwähnt sie "diese Krankheit, nein, sagen wir es schon, die Neurose". Bachmann berichtet allerdings in ihren Tagebüchern und Briefen schon lange vor der Trennung von Max Frisch von Angststörungen, Verlassenheitsgefühlen und Fremdheitserfahrungen, die auf ein Krankheitsbild verweisen, das klassisch unter dem Sammelbegriff "Neurose" gefasst wurde.

Während ihrer Vorlesungsbesuche bei Viktor Frankl (Autor von "Theorie und Therapie der Neurosen", 1956) ab dem Wintersemester 1947/48 und bei einer sechswöchigen Hospitanz in der Nervenheilanstalt Am Steinhof November/Dezember 1947, vermittelt durch ihren Psychologie-Professor Hubert Rohracher, dürfte Bachmann mit dem Konzept der Neurose bereits früh vertraut geworden sein. Es fällt schwer zu glauben, sie habe dieses Konzept nicht damals schon auf sich selbst bezogen, zumal sie in einem Brief an Hans Weigel über eine Vorlesung Frankls schrieb: "ich hab gedacht, ich werd verrückt, sicher war ich's auch ein wenig. Ganz draussen, ohne Zusammenhang, verzweifelt wegen Nicht-Dazugehören". Allerdings hatte Verdrängung bei ihr bereits im Blick auf die sehr frühen Verbindungen des Vaters zum Nationalsozialismus die Selbstwahrnehmung erfolgreich dominiert.



Legenden


Häufig wurde von der "Hilflosigkeit" Ingeborg Bachmanns berichtet, die ständig etwas fallen ließ oder herunterstieß, Manuskriptseiten durcheinander brachte bei Lesungen und so fort. Nach mancher Auffassung war dies gespielt, um Männer in ihren Bann zu ziehen (eine von Reich-Ranicki verbreitete Auffassung). "Das Mädchen" wurde sie von Heinrich Böll und Max Frisch genannt. Hans Höller 1999, S. 75f sah in ihrem Verhalten ein bewußt inszeniertes Rollenspiel zur Förderung der eigenen Karriere. Inge von Weidenbaum, Bekannte Bachmanns in Rom und später Mitherausgeberin der ersten Werkausgabe, berichtet, dass die Ungeschicktheit einen konkreten Hintergrund hatte. Ingeborg Bachmann sei extrem kurzsichtig gewesen, minus 13 Dioptrin. Aus Eitelkeit habe sie keine Brille getragen, Kontaktlinsen konnte sie - zumal als starke Raucherin - schlecht vertragen. So habe sie, schwer sehbehindert, eine "Kunst des Überspielens" entwickelt.

Der 2017 erschienene Briefe- und Aufzeichnungsband "Male oscuro" bietet einen neuen Blick auf die Krise nach der Trennung von Max Frisch. Ingeborg Bachmann war Ende 1962 - vermutlich von Frisch - schwanger, die Ärzte erklärten ihr, dass sie aus medizinischen Gründen das Kind nicht bekommen könne, wollten allerdings angesichts des hohen Alkohol- und Medikamentenkonsums der Schwangeren eine Abtreibung nicht durchführen. Bachmanns Selbstmordversuch am 10. Dezember 1962 kann als eine Reaktion auf diese extreme Belastungssituation gewertet werden. Mitte Januar 1963 wurde in einem Züricher Krankenhaus die Gebärmutter entfernt. In der gleichfalls 2017 erschienenen Biographie von Ina Hartwig wird Abschied genommen von der Legende, Ingeborg Bachmann sei durch die Beziehung mit Max Frisch zerstört und letztlich in den Tod getrieben worden. In einem Brief an Henze von Anfang 1963 erklärte Bachmann selbst, sie werfe Frisch "nur Kleinigkeiten, nebensächliche Dinge" vor und wolle "nicht von Schuld sprechen". In einem Briefentwurf an den Psychotherapeuten Helmut Schulze von 1965/66 schreibt sie: "Wäre bloß Herr F. mein Unglück, das wäre zu ertragen. Aber es reicht ja weiter. Er ist bloß die Stellvertretung für eine Mentalität, die ich verabscheue, an der ich nicht zugrunde gehen möchte, so nicht, obwohl ich meistens denke, ich bin schon tot." ("Male oscuro", S. 72)

Ungeklärt bleibt bislang der Verdacht, Bachmann sei im familiären Umfeld als Kind sexuell missbraucht worden. Der Verdacht geht zurück auf mehrere Stellen im Roman "Malina", veröffentlicht 1971, die eine extrem gewalttätige, sexuell übergriffige Vaterfigur zeigen, mit Szenen aus nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Es gab allerdings stets, beginnend mit Hans Mayers Besprechung des Romans, begründete Einwände dagegen, hier einen biographischen Bezug herzustellen. Bachmann selbst hat ihre Schwester Isolde Moser  - nach deren Bericht (Stoll 2013, Kap. 13, Anm. 30) - gebeten, den Vater auf diese Romanpassagen vorzubereiten, mit der entschuldigenden Erklärung "Ich brauche diese Figur". Auch mit dem Vater selbst habe Ingeborg Bachmann später über dieses Thema gesprochen. In "Male oscuro" 2017 findet sich in einem Traumprotokoll, das offensichtlich an den Psychiater Helmut Schulze adressiert ist, der Bericht: "Einmal ist in fast allen Träumen M.F. (Max Frisch - H.Sch.) die Hauptperson, immer mit dem Vater verwechselt (bis auf den letzten Traum), oder der Vater, mit M.F. verwechselt, sodaß es auf Inzestträume hinausläuft und den Horror davor." (S. 44)



Nachlass


Der Nachlass Ingeborg Bachmanns befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und wurde 1979 bis 1981 von Inge von Weidenbaum und Christine Koschel geordnet und erfasst (das zugehörige Verzeichnis ist einsehbar auf der Website der ÖN). 2016 nahm ihn die UNESCO in ihr Dokumentenerbe "Memory of the World" auf. Die noch unveröffentlichte Korrespondenz (darunter die mit Max Frisch) ist gesperrt und bis Oktober 2023 nur mit Genehmigung der sehr zurückhaltenden Erben einsehbar - entsprechend der gesetzlichen Schutzfrist von 50 Jahren.

Mit Genehmigung der Erben wurden 2004 der Briefwechsel mit Hans Werner Henze und 2008 der Briefwechsel mit Paul Celan veröffentlicht. Dies brachte für die Bachmann-Forschung, aber auch für literarisch interessierte Laien und das kulturelle Leben allgemein eine außerordentliche Bereicherung. Im März 2017 wurden Briefe Ingeborg Bachmanns an ihren Psychotherapeuten Helmut Schulze in Baden-Baden sowie Traumprotokolle aus den Jahren 1962 bis 1973 nach Freigabe durch die Angehörigen veröffentlicht, als erster Band der neuen Salzburger Werkausgabe. Diese Texte entstanden nach dem Selbstmordversuch Bachmanns Ende 1962, im letzten Lebensjahrzehnt, das geprägt war durch Angstattacken und Medikamentenmissbrauch. Der Band trägt den Titel "Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit".

Für 2019 war die Veröffentlichung der Korrespondenz Ingeborg Bachmanns mit ihren italienischen Freunden als weiterer Band der Salzburger Werkausgabe (Piper/Suhrkamp) geplant. Dies teilt Arturo Larcati in seinem Beitrag "Ingeborg Bachmanns italienische Korrespondenz" mit, der 2016 veröffentlicht wurde in "Ingeborg Bachmann in aktueller Sicht: Perspektiven der Forschung" (hg. v. Giuliano Lozzi, Isolde Schiffermüller u.a.). Daraus wurde, Stand Januar 2020, noch nichts.

Noch unveröffentlich befindet sich im Nachlass auch der Briefwechsel mit Max Frisch. Der Mythos vom Bösewicht Max Frisch, der die Autorin in die Verzweiflung getrieben habe, von Ingeborg Bachmann und der Familie erzeugt und gepflegt, könnte hier überprüft werden. Von der Forschung wird, besonders nachdrücklich in der jüngsten Biographie von Ina Hartwig, 2017 erschienen, dieser Mythos erheblich in Frage gestellt. Die Erben hatten jedoch auch Ina Hartwig den Einblick in diesen Briefwechsel verweigert.

Lektüreempfehlung: Isolde Schiffermüller/Gabriella Pelloni (Hrsg.), Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit, Piper/Suhrkamp 2017


PERSONEN


Paul Feyerabend (1924-1994)

Paul Feyerabend und Ingeborg Bachmann waren Kommilitonen. Sie haben ihr Studium in Wien zur gleichen Zeit 1946 begonnen und besuchten in Bachmanns letztem Studiensemester beide Veranstaltungen bei Viktor Kraft (bis zur Auflösung Mitglied des Wiener Kreises) und Leo Gabriel.

Joseph McVeight schreibt in seiner bemerkenswerten Publikation über die Wiener Jahre Bachmanns bis zum Umzug nach Italien im Spätsommer 1953, "Für die Entwicklung Ingeborg Bachmanns als Dichterin und Intellektuelle waren die Jahre in Wien nicht nur aufgrund des Studiums, sondern auch wegen der Menschen, denen sie dort begegnete, von großer Bedeutung." (McVeigh 2016, S. 49)

Feyerabend kam erst im Sommer 1946 zurück in seinen Geburtsort Wien, aus Thüringen, wo er nach dem Kriegsende zunächst in Apolda eine Kriegsverletzung an der Wirbelsäule mit Lähmungserscheinung von der Hüfte an abwärts auskuriert hatte bis zur Gehfähigkeit mit Stockunterstützung, dann zwei Semester als Stipendiat an der Weimarer Musikhochschule Gesang und Musiktheater studiert hatte. In Wien besuchte er Vorlesungen und Seminare in Geschichte, Soziologie, Physik und Philosophie. Wobei er sich schließlich auf Philosophie konzentrierte und bei Viktor Kraft 1951 promovierte. Im Herbst 1952 verließ er Wien für ein Postgraduiertenstudium bei Popper in London.

Zum Kontakt zwischen Bachmann und Feyerabend gibt es nur wenige direkte Belege. So schreibt Bachmann an die Eltern am 7. Juni 1948, dass sie über Feyerabend Hermann Hakel und Rudolf Felmayer kennengelernt habe. In Briefen an Hans Weigel berichtet Bachmann gelegentlich von Treffen mit Feyerabend. Die Schwester Isolde Bachmann versicherte McVeigh allerdings, dass Ingeborg Bachmann mit Feyerabend befreundet gewesen sei und auch Tagesausflüge mit ihm unternommen habe (McVeigh 2016, S. 49, Anm. 54). McVeigt ist auch der Meinung, dass Bachmanns Hinwendung zu Viktor Kraft durch Feyerabend "beeinflusst worden sein" konnte (McVeigh 2016, S. 50).

Spätere Spuren der Verbindung zwischen Bachmann und Feyerabend finden sich in Feyerabends "Reply to Criticism" 1965, worin er ausführlich Bachmanns "Frankfurter Vorlesungen" zitiert. Feyerabend entwickelt in diesem Essay seinen "Theoretischen Pluralismus", wonach die Entwicklung des Wissens nicht auf immer größere Exaktheit hinauslaufe, sondern auf die Entfaltung von Alternativen. In Feyerabends Memoiren "Zeitverschwendung", erschienen 1995, geschrieben unter dem Diktat eines Gehirntumors, erscheint Bachmann nicht.

Lektüreempfehlung: Joseph McVeigh, Ingeborg Bachmanns Wien; Berlin: Insel, 2016



Ludwig Wittgenstein (1989-1951)

Während ihres Studiums in Wien gelang es Ingeborg Bachmann nicht, den von ihr höchst geschätzten Philosophen persönlich kennenzulernen, wenngleich sie über Feyerabend Informationen über dessen Aktivitäten in Wien erhielt. Wittgenstein hielt sich im Winter 1949/50 in Wien auf, um seiner Schwester Hermine nahe zu sein, die an Krebs erkrankt war und am 11. Februar 1950 mit 76 Jahren verstarb. Danach, vermutlich zwischen Mitte Februar und Mitte März, besuchte Wittgenstein auch einmal den Kreis um den Philosophen Viktor Kraft, durch Feyerabend initiiert, vermittelt durch Wittgensteins Schülerin und Übersetzerin Elizabeth Anscombe, die Feyerabend bei einem Referat Feyerabends zu Descartes kennengelernt hatte. Lesenswert sind die Ausführungen Feyerabends zu seinen Bemühungen um Wittgenstein in seinen Memoiren (Feyerabend 1995: Zeitverschwendung, S. 75f). Bachmann selbst hatte allerdings an diesem oder anderen Treffen des Kraft-Kreises nicht teilgenommen. Die naturwissenschaftliche Orientierung des Kreises dürfte sie wenig interessiert haben. Was McVeigh "Bachmanns Bekehrung zum neopositivistischen Standpunkt" (S. 52) nennt, vollzog sich später, vermutlich unter dem bis 1952 fortdauernden Einfluß Feyerabends.

Als Bachmann Anfang 1951 in Cambridge vergeblich versuchte, mit Wittgenstein Kontakt aufzunehmen, war der Philosoph fortgeschritten an Prostatakrebs erkrankt. G. E. M. Anscombe berichtet im Vorwort zu Wittgensteins "Bemerkungen über die Farben" 1977, Wittgenstein habe Teile des  Manuskripts bei ihr in Oxford zurückgelassen, "als er im Februar 1951 nach Cambridge in das Haus von Dr. Bevan zog, in der Erwartung, dort zu sterben" (dt. Ausgabe bei Suhrkamp 1979, S. 5).  Bachmann war bereits im Dezember von Paris aus, wo der Versuch eines Zusammenlebens mit Celan gescheitert war, nach London gereist, wo sie sich u.a. mit Helga Aichinger traf. Im Februar las sie auf einer Veranstaltung der Anglo-Austrian Society. Wittgenstein starb am 29. April 1951.

Zwei Essays von 1953, "Sagbares und Unsagbares - die Philosophie Ludwig Wittgensteins" und "Ludwig Wittgenstein - Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte" dokumentieren die intensive Auseinandersetzung Bachmanns mit dem Philosophen. Anfang 1955 nennt Bachmann die Sprachphilosophie Wittgensteins die wichtigste "geistige Begegnung" ihrer Entwicklung ("Wir müssen wahre Sätze finden", S. 12). Zur Präsenz Wittgensteins im Werk Bachmanns, insbesondere in "Malina", hat die Forschung intensiv gearbeitet. Als wichtige Einflußquellen für den Erzählstil und die Entwicklung der Geschichte in "Malina" wurden der "Tractatus logico-philosophicus" und die "Philosophischen Untersuchungen" ausgemacht. In einer sehr gehaltvollen Dissertation über "Wittgenstein in der Prosa von Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard" bearbeitet Inge Steutzger die Auseinandersetzung Bachmanns mit Wittgenstein. Es gehe ihr dabei, schreibt die Literaturwissenschaftlerin, "um den Übergang von Sprachphilosophie in Literatur, um das Um- und Fortschreiben von Philosophemen mit literarischen Mitteln".

Bei dieser "Umschreibung" komme es auch zur Kritik an Wittgenstein, was nicht erstaunt angesichts der lebenslangen Bemühungen Bachmanns um das "worüber man nicht sprechen kann" und ihrer Nähe zur Sprachphilosophie Heideggers - bei allen Versuchen, sich von diesem abzugrenzen. Wer den Einfluß Wittgensteins auf Bachmann untersucht, wird auch mit der Frage nach ihrem Bezug zu Heidegger konfrontiert.



Maria Callas

Über Maria Callas (1923-1977) schrieb Ingeborg Bachmann im Entwurf zu einer "Hommage à Maria Callas": "sie war immer die Kunst, ach die Kunst, und sie war immer ein Mensch, immer die Ärmste, die Heimgesuchteste, die Traviata." Bachmann hörte Maria Callas zum ersten Mal bei einer Probe zu Viscontis La Traviata-Inszenierung an der Mailänder Scala im Januar 1955, gemeinsam mit ihrem damaligen Lebenspartner und lebenslangen Freund Hans-Werner Henze. Sie besuchte danach drei Opernaufführungen mit Maria Callas. In diesem Kontext entstand vermutlich die erste Notiz zu dieser Hommage, die aber augenscheinlich erst später ausformuliert wurde. Ausformuliert mit Merkmalen, die irritierend die Textsorte "Nachruf" evozieren, so etwa das bereits zitierte Perfekt. 1958 spekulierte die Musikwelt erstmals darüber, ob Maria Callas ihre Stimme verliere, nach dem Skandal bei der "Norma"-Aufführung in Rom, als sie zum 2. Akt nicht mehr auf die Bühne kam. 1963 erschien im "Spiegel" ein kritischer Bericht zu den Stimmproblemen der Sängerin, unter dem Titel "Stimm-Bruch". In diesem Zeitraum, 1958-1963, dürfte der Entwurf Ingeborg Bachmanns verfasst sein.

Beide, die Autorin wie die Sängerin, unterwarfen ihr Leben einem unbedingten Kunstwillen und beide stürzten von größter öffentlicher Anerkennung in ihrem jeweiligen Fach in den Abgrund einer tödlich endenden Tablettenabhängigkeit. Auch in ihrem Beziehungsleben gibt es auffallende Parallelen. Beide zerbrachen an der Beziehung zu einem Mann von besonderer öffentlicher Bedeutung, bei Callas war es Onassis, bei Bachmann Frisch, und beide verloren ein Kind von diesem Mann. "Die Callas" und "Die Bachmann" entsprechen dem Typus der "Diva", der im 19. und 20. Jahrhundert zunächst als Phänomen der Musikwelt geprägt wurde, dann auch auf das Schauspiel und schließlich den Film ausgeweitet wurde. Er umfasste exzeptionelle künstlerische Leistung, eigenständige Wertsetzungen in der Lebensführung und eine gewisse Entrücktheit aus der profanene Wirklichkeit - ganz dem voraufgegangenen Geniekult der Literatur verbunden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlor der Begriff zunehmend seine Konturen und wurde zu einer Bezeichnung exzentrischen Auftretens, ohne den Anspruch besonderer künstlerischer Qualität und auch nicht mehr beschränkt auf Frauen.

Irene Fußl/Arturo Larcati erklären in "Das Rom der Ingeborg Bachmann" 2015, Bachmann sei in Rom bestimmt gewesen von dem Ehrgeiz "die Maria Callas der Dichtung werden zu wollen". Bachmanns Lektor bei Piper, Reinhard Baumgart, nannte schon 1980 (in Peter Hamms Bachmann-Film "Der ich unter Menschen nicht leben kann") Bachmann eine "Callas der Dichtkunst" - im Hintergrund dürfte stehen, dass er während der gemeinsamen Arbeiten an der Druckfassung von "Der gute Gott von Manhattan" in Schwabing häufig die Wahnsinnsarie aus der "Lucia di Lammermoor" mit Maria Callas zu hören bekam, von Ingeborg Bachmann auf den Plattenteller gelegt. Die Sterbebegleiterin Doris Tropper hat eine Begegnung der Autorin und der Sängerin literarisch gestaltet, in ihrem Text "Ingeborg Bachmann trifft Maria Callas im Haus am Meer". Allerdings ist es im wirklichen Leben nie zu einer persönlichen Begegnung der beiden gekommen.



Anselm Kiefer

Der Maler-Bildhauer Anselm Kiefer hat in verschiedenen Arbeiten auf Ingeborg Bachmann Bezug genommen, häufig durch direkte Zitate aus ihren Texten. Bachmann war nicht seine einzige zeitgenössische literarische Referenz, auch Paul Celan, der Bachmann-Geliebte, erscheint in seinen Werken. Während Celan schon mit Beginn der 1980er Jahren präsent ist, prägen Bachmann-Bezüge Kiefers Arbeiten der späten 80er und der 90er Jahre, darunter besonders der Bachmann gewidmete Zyklus "Dein und mein Alter und das Alter der Welt", fertiggestellt 1997. Eines der monumentalen Bilder des Zyklus, mit einer Celan-Zeile betitelt als "Der Sand aus den Urnen", ist oben markiert mit "für Ingeborg Bachmann". Ein anderes trägt an der Basis einer pyramidalen Struktur ein Fragment aus Bachmanns Gedicht "Das Spiel ist aus", welches anhebt mit "Mein lieber Bruder": "dein und mein Alter und das Alter der Welt". Bei Bachmann geht der Satz weiter mit "mißt man nicht in Jahren". Biographisch ist Kiefer fast 20 Jahre jünger als Bachmann, aber er meint hier gewiss nicht das biographische Alter, sondern ein mythologisch überhöhtes Alter künstlerischer Sensibilität und Erfahrung.

Die Germanistin Franziska Frei Gerlach hat in einer Arbeit über "Geschwisterschaft in Wort und Bild: Ingeborg Bachmann und Anselm Kiefer" 2000 die Korrespondenzen zwischen Texten Bachmanns und dem Bachmann gewidmeten Zyklus Kiefers von 1997 im Blick auf das Geschwisterthema herausgearbeitet. Bereits in einem Essay von 1998 in der NZZ hatte der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme sich mit dem Zyklus "Dein und mein Alter und das Alter der Welt" auseinandergesetzt. Böhme urteilte abschließend, Kiefer habe, "in einer Geste der Devotion und Dedikation der Autorin gegenüber, das Werk der Ingeborg Bachmann in einem gewaltigen Kult erstickt. Er ist kein Bruder der Dichterin." Frei Gerlach äußert sich dazu zurückhaltender, schreibt von einer "Verbindung aber, von der ungewiß bleibt, welcher Erfolg ihr beschieden ist" (Frei Gerlach 2000, S. 183).

Zentrales künsterisches Ausdrucksmittel der Bilder und der Bücher Kiefers ist Sand. Die pyramidale Architektur eines zentralen Bildmotivs läßt an Ägypten denken. Und es gibt starke künstlerische Korrespondenzen zwischen dem Zyklus und einer Arbeit Kiefers mit dem Titel "Osiris und Isis. Vom Bruch zur Einigung". Darauf hat schon Hartmut Böhme, dann auch Frei Gerlach hingewiesen. Böhme registrierte 1998 allerdings mit leicht erhobenem Zeigefinger, dass die Bildvorlagen Kiefers von einer traditionell arbeitenden Ziegelfabrik in Indien stammen, was Kiefer selbst kundtut in den Büchern, die dem Zyklus zugehören. Kiefer verfahre (nicht nur) damit rücksichtslos gegen Zeit- und Ortsbezüge, erhaben, monumental, in metaphysischer Überbietung - während Bachmann dem Leiden und der Hoffnung verpflichtet und unaufgehoben verbunden bleibe, so Böhme.

Beiden Künstlern ist gemeinsam, dass sie - in unterschiedlichen Kunstformen - die geschichtliche Verstrickung der deutschen Kultur mit dem Nationalsozialismus und seinen Gräueln in schonungsloser Betroffenheit zu bearbeiten suchten. Dass Kiefer tatsächlich sich in einer Geschwisterschaft mit Bachmann sah, scheint mir nicht notwendig gegeben. Schließlich zitiert Kiefer in seinem Zyklus auch Celan, der in Bachmanns Gedicht "Das Spiel ist aus" zweifellos präsent ist. Er könnte das Werk also auch auf Celan und Bachmann als "Geschwisterpaar" beziehen.

Lektüreempfehlungen:
Hartmut Böhme, "Mit einem Steingefühl, alterslos". Anselm Kiefers Zyklus für Ingeborg Bachmann, NZZ 06.06.1998

Franziska Frei Gerlach, Geschwisterschaft in Wort und Bild: Ingeborg Bachmann und Anselm Kiefer, Freiburger Frauenstudien 1/2000, S. 169-191 - mit Abbildungen


THEMEN


Philosophie


Ingeborg Bachmann hat nicht nur leidenschaftlich literarisch geschrieben, sondern auch komponiert und sich insbesondere intensiv mit Philosophie auseinander gesetzt. Sie promovierte 1949 bei Viktor Kraft mit einer Arbeit über "Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers". Ihre Dissertation referiert die kritischen Einwände gegen Heideggers Existenzialphilosophie auf der Grundlage materialistischer, idealistischer, lebensphilosophischer, phänomenologischer, theologischer und ontologischer Positionen.  Bachmann selbst schätzte ihre Wiener Dissertation gering und kritisierte später insbesondere die "verklemmte, erbarmungswürdige akademische Diktion".

In der Tat verfährt die Autorin in ihrer Dissertation weitgehend referierend, hangelt sich an einer Darstellung der Gegenwartsphilosophie (der von Joseph M. Bochenski) entlang durch die Positionen, von denen aus Heidegger kritisiert wurde, wobei sie eine beeindruckende Fülle an Material einarbeitet. Nicht immer setzt sie sich dabei allerdings mit den Originaltexten auseinander. Es muss auch davon ausgegangen werden, dass sie "Sein und Zeit" nicht im Original gelesen hat, denn etliche Stellen sind falsch zitiert. Eine eigenständige Bewertung der Philosophie Heideggers findet sich bei ihr nicht - auch wenn sie später bekannte, sie habe "mit zweiundzwandzig Jahren" gedacht, Heidegger könne ihre Dissertation "nicht überleben" . Gelegentlich finden sich persönliche Allgemeinaussagen wie die im Kapitel zum Neukantianer Heinrich Rickert: "Alle großen Philosophen haben, in der Hauptsache, nach dem positiv bestimmbaren Sein der Welt gefragt und gehandelt." Gleich im Anschluss zitiert sie allerdings Rickert gleichsam als Garant dieser Aussage wie folgt: "Dass die erkennbare Welt (und nicht >das Nichts<) im Zentrum der Philosophie steht, dabei wird es hoffentlich auch in Zukunft bleiben."

Nur ganz am Ende der Dissertation findet sich als persönliche Kritik der Autorin an Heideggers Philosophie des "Nichts" die Bemerkung, dem "Bedürfnis nach Ausdruck dieses anderen Wirklichkeitsbereiches" käme "die Kunst mit ihren vielfältigen Möglichkeiten in ungleich höherem Mass entgegen" als "eine systematisierende Existentialphilosophie". Sie nennt beispielhaft Goyas Gemälde "Kronos verschlingt seine Kinder" und Baudelaires Sonett "Le gouffre". In einem Brief, der unlängst in "Male oscuro" veröffentlicht wurde, erklärt Bachmann, "ich komme in dieser Welt nicht an die Wirklichkeit heran, die für mich die einzig wirkliche ist", um dann zu bekennen: "Nur in der Musik ist etwas für mich da, etwas von dem, was ich meine, sonst nirgends."

Im Winter 1959/60 lernte sie während ihres Aufenthaltes zur Poetikvorlesung in Frankfurt Theodor W. Adorno kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod 1969 korrespondierte. Weitere Philosophen, mit denen sie persönlichen Austausch pflegte, waren Gershom Sholem, Ernst Bloch und Hannah Arendt.

Lektüreempfehlung: Ingeborg Bachmann, Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers. Hg. von Robert Pichl, mit einem Nachwort von Friedrich Wallner, München/Zürich: Piper 1985



Politik

Über das politische Engagement Bachmanns während ihrer Wiener Jahre 1949-1953 informiert Joseph McVeigh in seiner verdienstvollen Publikation "Ingeborg Bachmanns Wien", 2016. Er arbeitet dabei vor allem die Abhängigkeit von, aber auch die Ansätze zur Differenz mit dem bekennenden Anti-Kommunisten Hans Weigel im Kontext des aufkommenden Kalten Krieges heraus (McVeigh 2016, S. 188-222).

1958 engagiert sich Ingeborg Bachmann gegen die Stationierung von Atomwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Worauf sie von Hans Weigel, ihrem 15 Jahre älteren Partner der ersten Wiener Jahre, der sie (nach eigener Auskunft) in der Nachkriegszeit mit Kleidung und Accessoires vom Wiener Schwarzmarkt versorgt habe, besorgt paternalistisch aus der Ferne gerügt wird: "Sag mal Inge, was ist Dir da eingefallen? Bist Du ganz und gar von Gott verlassen?" Bachmann habe sich doch als Gast in Deutschland und "noch dazu als Dame" politisch zurückzuhalten. Einige Zeit später beredete Bachmann Hans Werner Henze, gemeinsam mit ihr den Wahlkampf von Willy Brandt zu unterstützen (siehe die Briefe an ihn vom 26. Juli und vom 29./30. August 1965). Im gleichen Jahr setzte sie sich gegen die Verjährung von Naziverbrechen ein und als 1966 in Deutschland die Proteste gegen den Vietnamkrieg begannen, war sie mit dabei.

1971 erschien der Roman "Malina", den die aufkommende feministische Literaturforschung der 70er Jahre als scharf gezeichnete Kritik der patriarchalischen Gesellschaft des Industriezeitalters las. In "Nicht das Reich der Männer und nicht das der Weiber" wendete Barbara Völker-Hezel sich 1978 gegen diese Position und bis ins 21. Jahrhundert hinein blieb die offizielle Germanistik eher reserviert gegenüber Ansätzen, bei Ingeborg Bachmann feministische Botschaften zu lesen. Inzwischen wird allerdings, dank der kritischen Ausgabe des Todesarten-Projektes 1995 durch Robert Pichl und weiterer Publikationen aus dem Nachlass, an Ingeborg Bachmanns Beitrag zum Feminismus nicht mehr gezweifelt. Bereits 1964/65 lässt Bachmann in Vorarbeiten zu "Das Buch Franza" die gedemütigte Protagonistin sagen "Ich bin von niederer Rasse. Oder müsste es nicht Klasse heißen?" Womit Bachmann lange vor der feministischen Theoriebildung Intersektionalität anspricht. Der Feminismus hat Bachmann allerdings auch vorgeworfen, einen schlichten Täter-Opfer-Dualismus zu affirmieren.

Einen neuen Blick auf Ingeborg Bachmann als politische Autorin geben Hans Höller und Arturo Larcati in "Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag" 2016. Schon der Titel ist Programm, verweist er doch auf den exemplarisch politischen Lyriker Heinrich Heine - auch wenn dessen Winterreise weniger erfreulich war. Die Autoren verweisen insbesondere auf Bachmanns Gedicht "Poliklinik Prag", das sie als Lob auf eine Welt lesen, "in der die Herrschaft des Geldes nicht mehr gilt und die Ungleichheit und die alten Privilegien abgeschafft wären" (Höller/Larcati 2016, S. 42). Das Programm hierfür sei formuliert in "Böhmen liegt am Meer", das Peter Horst Neumann 1989 als "Böhmisches Manifest" Bachmanns bezeichnete. Das Gedicht "Prag Jänner 64" gilt Höller und Larcati als jenes "mit den konkretesten politisch-utopischen Bildern" (ebd.). Bei der Lesung von "Böhmen liegt am Meer" im Mai 1965 in Wien traf sie den österreichischen Kommunisten und Schriftsteller bömischer Herkunft Ernst Fischer. Wie sie an den gemeinsamen Bekannten Zeno von Liebl am 18. Mai schrieb, sei das Gespräch "ideal 'österreichisch', wie es das eben nicht mehr gibt" verlaufen. Mit dem "Kapital" von Karl Marx hatte sie sich schon gleich nach Kriegsende beschäftigt (Brief an Jack Hamesh, Kriegstagebuch, S. 21).



Musik

Nicht nur Ingeborg Bachmanns Leben, sondern auch ihr Werk sind strukturell in ausgezeichneter Weise durch Musik geprägt. Darauf haben sie selbst und die Forschung immer wieder hingewiesen, so vor allem im Blick auf das Todesarten-Projekt (etwa Corina Carduff, Figuren der Musik in der Literatur Ingeborg Bachmanns, 1998). Ihr enger Vertrauter und Freund Hans Werner Henze nannt den Roman "Malina" ihr gegenüber in einem Telegramm "deine() erste() Sinfonie welche die Elfte von Mahler ist".

Ein bekanntes Foto zeigt die Autorin beim vierhändigen Klavierspiel mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Isolde. In ihrer Kindheit arbeitete sie nach eigenem Bekenntnis über mehrere Jahre an der Komposition einer Oper, zunächst an der Musik, dann am Libretto. In einem Gespräch, kurz vor ihrem Tod von Gerda Haller in Rom aufgezeichnet, erklärt sie: "Ich habe zuerst angefangen zu komponieren und dann erst zu schreiben." Und weiter: "Für mich ist Musik größer als alles, was es gibt an Ausdruck." (Bachmann 2004, S. 70f) Schon in einem Briefentwurf von 1965/66 an ihren Arzt Helmut Schulze, Psychotherapeut in Baden-Baden, veröffentlicht in "Male oscuro" (Nr. 23), finden wir: "Nur in der Musik ist etwas für mich da, etwas von dem, was ich meine, sonst nirgends."

Dass die literarische Gattung "Lyrik" vom Gesang hergeleitet ist, "Lyrik" auf die "Lyra" verweist, zu deren Klängen Lieder vorgetragen wurden, ist sattsam bekannt. Und das Verdikt Reich-Ranickis von der als Romanautorin "gefallenen Lyrikerin" dürfte sich auch der strukturellen Anlehnung ihrer Erzählweise an musikalische Komposition verdanken - die ein am Realismus geschulter Kritiker wie RR im Roman (oder in Erzählungen) nicht lesen möchte.

Unter Bachmanns Essays finden sich auch die Texte "Die wunderliche Musik" und "Musik und Dichtung". Rätselhaft und formal höchst eigenwillig ist dabei der Text "Die wunderliche Musik", der eher wie das Skript zu einem musikalisch-theatralischen Gesamtkunstwerk anmutet, das die Welt der Orchestermusik darstellen möchte. In "Musik und Dichtung" geht es um den Anteil beider an der "menschlichen Stimme" und ihrer gemeinsamen Aufgabe, diese zum Erklingen zu bringen.



Sprachenvielfalt


Ingeborg Bachmann ist zeitweise zweisprachig aufgewachsen. Kindheit und Jugend verbrachte sie großteils im Elternhaus des Vaters, in Obervellach bei Hermagor im Gailtal, wo man Deutsch und Slowenisch sprach. Für Bachmann war diese Vielfalt, angereichert durch die unmittelbare Nähe zu Italien, von identitätsstiftender Bedeutung. In einem Gespräch mit Harald Grass berichtet sie: "ich war hüben und drüben zuhause, mit den Geschichten von guten und bösen Geistern zweier und dreier Länder; denn über den Bergen, ein paar Wegstunden weit, liegt schon Italien."

Im Gymnasium lernte Bachmann Latein, Englisch und Französisch, zuhause hörte sie, wie der Vater Privatschüler im Italienischen unterrichtete. In Graz belegte sie im Sommersemester 1946 auch einen Englischkurs, was ihr in Wien dann zu Anstellungen bei der amerikanischen Besatzungsbehörde verhalf. Während ihrer Arbeit beim amerikanischen Radiosender RWR in Wien übersetzte sie 1952 ein Stück von Thomas Wolfe ("Das Herrschaftshaus").

Wenn sie ab 1953 überwiegend in Italien lebt, so kann dies an die frühen Kindheitserfahrungen in der Grenzregion anknüpfen. Italienisch war ihr eine vertraute Sprache, und so passt sie sich souverän ihren Künstlerkollegen und Freunden Hans Werner Henze und Hans Magnus Enzensberger an, die in ihrer Korrespondenz mit Bachmann häufig italienische Ausdrücke oder auch längere Passagen auf Italienisch einfügen. Henze hat ganze Briefe auf Italienisch abgefasst, der erste überlieferte thematisiert am 24. April 1954 die gescheiterten Ehepläne. Auch in ihrer Korrespondenz mit italienischen Kolleginnen und Kollegen bewegt sie sich frei im Italienischen. Die Briefwechsel mit Henze und Enzensberger sind zudem durchsetzt mit englischen und französischen Phrasen und Passagen. Ihre Briefe an Gisèle Lestrange, die Ehefrau von Paul Celan, sind in gepflegtem Französisch abgefasst.

Ingeborg Bachmann beteiligte sich auch mit großem Enthusiasmus am Projekt einer dreisprachigen (deutsch, französisch, italienisch) kontinentaleuropäischen Literaturzeitschrift namens "Gulliver", das 1962 gestartet wurde mit Uwe Johnson als Chefredakteur und 1963 nach einer Konferenz der Beteiligten in Paris als gescheitert erklärt, dem Projekt der Arbeit an einer "poetischen Weltsprache". Beteiligt war auch Hans Magnus Enzensberger, der zwei Jahre später sein "Kursbuch" startete als Folgeprojekt.

In der Erzählung "Simultan", veröffentlicht im gleichnamigen Erzählungsband 1972, reist eine Simultandolmetscherin mit einem UNO-Angestellten, den sie gerade erst kennengelernt hatte, zur Erholung von ihrer anstrengenden Tätigkeit, durch Italien. Die beiden finden keine gemeinsame Sprache, die Heldin bleibt alleine im Hotel zurück, versucht sich an der Übersetzung eines als Bibelzitat erscheinenden italienischen Satzes ins Deutsche, scheitert. Sie sucht in ihrer Heimatsprache, dem Deutschen, Zuflucht aus dem Sinnverlust, den die berufliche Pseudobeheimatung in tendenziell allen Sprachen (sie beherrscht sechs) gebracht hatte, flüchtet aber gerade da, wo es um Emotionalität geht, ins Englische.

Die Autorin selbst schrieb einmal, in einem Briefentwurf von 1965/66 an ihren Psychoanalytiker Helmut Schulze: "Nur in der Musik ist etwas für mich da, etwas von dem, was ich meine, sonst nirgends." Sie scheint damit das Klischee von der "Universalsprache" Musik zu bestätigen.


ORTE


Das Europa Ingeborg Bachmanns

Anfang September 1953 schreibt Ingeborg Bachmann aus Italien an Paul Celan: "(M)anchmal wünsche ich mir, nie mehr zurück zu müssen nach ›Europa‹". Eine irritierende Aussage, denn ist Italien denn nicht "Europa"? Einen Hinweis auf das gemeinte "Europa" geben die im Brief genannten Gegenbilder: "Ich wohne in einem alten kleinen Bauernhaus, ganz allein, in einer wilden, schönen Gegend". Ihr "Europa" war dagegen eine Kette noch kriegsgezeichneter Metropolen, Wien, Hamburg, Paris, London - wo sie in den Jahren davor an ihrer Karriere als Lyrikerin gearbeitet hatte. Und über Ischia insgesamt schreibt sie an die Eltern am 12.08.1953: "es ist eine ganz antike Insel, die noch den alten Göttern gehört und der die Zeit nichts anhaben kann". Die "alten Götter" der Antike, so gerne in Sonntagsreden mit Europa verknüpft, haben offenkundig mit dem hier aufscheinenden Europabild Bachmanns nichts zu schaffen.

1963 wurde von Elio Vittorini (neorealistischer Autor, 1908-1966) und anderen das Konzept einer internationalen Kulturzeitschrift mit dem Arbeitstitel "Gulliver" entwickelt. Sie sollte Beiträge italienischer, französischer und deutscher Autoren versammeln. Ingeborg Bachmann verfasste für die Probenummer einen Beitrag mit dem Titel "Diario in publico". Darin kritisiert sie ein Europa, das sich im Warenverkehr und in Verbrüderungsgesten (1958 hatten sich de Gaulle und Adenauer zum ersten Mal getroffen, 1963 wurde der Élysée-Vertrag unterzeichnet) erschöpft. Sie thematisiert aber auch die Problematik einer darüber hinausgehenden Verständigung unter Intellektuellen. In welcher Sprache solle diese denn sich vollziehen, wo es schon bei einer gemeinsamen Sprache so viele Möglichkeiten zum Mißverständnis gebe! Allerdings sieht sie in den Verständigungsbemühungen über Sprachgrenzen hinaus auch die Chance, "genauer zu werden". Vor dem Hintergrund aktueller interkultureller Debatten verdient Bachmanns Beitrag für "Gulliver" eine neue Lektüre.

Besonders kritisch wendet sie sich in diesem Beitrag gegen "Abendländerei" und die "schöne Laune des Europäischseins". Dass zur Begründung des Europas der Nachkriegszeit häufig rekurriert wurde auf ein diffuses gemeinsames antik-christliches Erbe, ist hinlänglich bekannt. Schon der Brief von 1953 an Paul Celan zeigt Bachmanns Distanz zu diesem Konzept.

Lektüreempfehlung: Jürgen Wertheimer (Hrsg.), Suchbild Europa. Künstlerische Konzepte der Moderne, Rodopi 1995 (darin: "Ingeborg Bachmanns skeptischer Blick auf Europa")




Italien

Im September 1952 reist Ingeborg Bachmann gemeinsam mit ihrer Schwester Isolde erstmals nach Italien, mit den Stationen Rom, Neapel und Positano. Anfang August 1953 besucht sie Hans Werner Henze, der auf Ischia ein Domizil gemietet hatte, das auch Platz für seine "liebe wunderbare Bachmann" bot. Die beiden hatten sich auf der Herbsttagung der Gruppe 47 im Jahr zuvor kennengelernt. Bei ihrer Ankunft gerät Bachmann in das Fest zu Ehren des Patrons der Gemeinde Forio, San Vito. Sie beschreibt diese Erfahrung als "das Schönste, was ich bisher erleben durfte". Ischia ist für sie wie eine erträumte Heimat: "Man ist garnicht mehr fremd, sondern einfach hin- und mitgerissen von dem Leben hier, es ist eine ganz antike Insel, die noch den alten Göttern gehört und der die Zeit nichts anhaben kann." Auf Ischia beginnt die lange andauernde Zusammenarbeit der beiden in verschiedenen Musikprojekten. Henze sucht dann eine gemeinsame Wohnung in Neapel, die jedoch meist leersteht, da beide anderweitig unterwegs sind, Bachmann in Deutschland und zu einem Besuch bei ihren Eltern in Österreich.

Im Januar 1954 zieht Bachmann nach Rom, lebt zunächst in einer eher schäbigen Unterkunft in der Via Ripetta 226, dann bezieht sie ein Zimmer im Palazzo Ossoli an der Piazza della Quercia. Dort sollte sie bis zum Herbst 1957 bleiben, unterbrochen von einem längeren Aufenthalt in der gemeinsamen Wohnung in Neapel mit Henze Februar bis August 1956. Ganz in der Tradition des "Dichterfürsten" Goethe und, weiter zurückgreifend, des von ihr geschätzten "poeta laureata" Francesco Petrarca, suchte auch Ingeborg Bachmann die Krönung ihrer Karriere als Dichterin in Rom. Ihr erster Aufenthalt ist jedoch geprägt durch Geldnöte und Gelegenheitsarbeiten für deutsche Medien, u.a. für Radio Bremen unter dem Pseudonym "Ruth Keller". Die Geldnöte zwingen sie im Herbst 1957 dann zur Rückkehr nach Deutschland.

Im Juli 1958 lernt sie in einem Pariser Café Max Frisch kennen, der dann in Zürich eine Wohnung für die beiden mietet, in der Feldeggstraße 21. Nach der Scheidung Frischs 1959 bezieht das Paar 1960 eine Wohnung in Rom, die Ingeborg Bachmann gemietet hatte, lebt zeitweise aber weiterhin auch in Zürich zusammen. Rom hat für Bachmann in dieser Zeit die Anziehungskraft verloren, am 17. Dezember 1961 schreibt sie an Hans Magnus Enzensberger "ich wag' mir kaum selber zu sagen, wie gleichgültig mir Rom geworden ist". Im Sommer 1962 lernt Frisch Marianne Oellers kennen und trennt sich von Ingeborg Bachmann. Bachmann gibt die Wohnung in Rom auf und verlegt ihren Hauptwohnsitz nach Berlin. 1965 kehrte sie nach Rom zurück, in eine Wohnung in der Via Bocca di Leone 60. Zwei Jahre vor ihrem Tod zieht sie in eine abgeschiedene Wohnung in der Via Giulia 66 (Palazzo Sacchetti) um.

Lektüreempfehlung: Arturo Larcati, Diva-Kind und Intellektuelle. Ingeborg Bachmann in Italien. In: Hemecker/Mittermayer, Mythos Bachmann, Wien: Zsolnay, 2011, S. 241-262



Frankreich

Bachmanns Beziehung zu Frankreich war stets über Personen vermittelt und weitgehend beschränkt auf Paris. Bestimmend erschien dabei ihre Beziehung mit Paul Celan, der von 1948 bis zu seinem Freitod in der Seine 1970 in Paris lebte. Ingeborg Bachmann pflegte auch eine freundschaftliche Beziehung zur Celans Frau Gisèle, wie der auf Französisch geführte Briefwechsel der beiden 1957-1970 bezeugt.

Als Paul Celan im Juni 1948 nach Paris übersiedelt, bleibt Bachmann in Wien zurück für die Arbeit an ihrer Promotion zu Heidegger. In ihren Briefen an Celan in Paris schreibt sie von einem zauberhaften "Schloß", das sie für sich und Celan einrichten möchte um ihn zu sich (zurück) zu holen. Erst im September 1950 beschließt sie, Celan nach Paris zu folgen. Mitte Oktober bis Mitte Dezember 1950 ist sie dann in Paris und nach einem London-Aufenhalt nochmals vom 23. Februar bis zum 03. März 1951. Der Versuch, mit Celan zusammenzuleben, scheitert jedoch "strindbergisch", wie Bachmann in einem Brief an Hans Weigel bekennt. Im November 1951 lernt Celan seine spätere Frau Gisèle de Lestrange kennen, daraufhin bittet er Bachmann, nicht mehr nach Paris zu kommen. Erst im November 1956 und dann 1958 sowie im Herbst 1960 kommt es zu weiteren Besuchen in Paris.

Im Juli 1955 begegnet Ingeborg Bachmann in Cambridge dem französischen Journalisten Pierre Evrard, den sie Dezember 1955 in Paris besucht. Nach wenigen Tagen reist sie wieder ab, wegen der "Weihnachtstrostlosigkeit", wie sie Alfred Andersch schreibt. Auch die Beziehung zu Max Frisch ist vorübergehend mit Frankreich verbunden. Das Paar lernt sich am 3. Juli 1958 in Paris kennen, als Bachmann zu klärenden Gesprächen bei Celan und seiner Frau Gisèle weilt und Frisch Aufführungen zweier seiner Stücke besucht. 1963 reist sie zu einem Treffen der französischen Redaktionsgruppe des europäischen Kulturzeitschriftprojektes "Gulliver" nach Paris.

Drei Gedichte, "Paris" (erstmals 1952 veröffentlicht), "Die Brücken" und "Hôtel de la Paix" dokumentieren, wie Paris für Ingeborg Bachmann primär im Bezug zu Paul Celan bedeutungsvoll ist.



England

In ihrem "Kriegstagebuch" berichtet Ingeborg Bachmann von ihren ersten Begegnungen mit Engländern, Besatzungssoldaten, in Kärnten 1945, vor allem mit Jack Hamesh, der sie zu ihrer Einstellung dem Nationalsozialismus gegenüber befragte und in den sie sich offenkundig verliebte. Hamesh habe ihr erzählt, dass er 1938 als Jude mit einem Kindertransport aus Wien nach England gekommen sei. Auch Helga Aichinger, die Zwillingsschwester Ilse Aichingers, die Bachmann bald darauf in Wien, vielleicht vermittelt durch Hans Weigel, kennenlernte, war mit einem Kindertransport nach England gekommen. Von Dezember 1950 bis Februar 1951 besucht Bachmann Helga Aichinger in London. 1951 liest Ilse Aichinger bei der Gruppe 47, 1952 Ingeborg Bachmann. 1952 erhält Aichinger, 1953 Bachmann den Preis der Gruppe.

1964 kam Bachmann nach London zu den Shakespeare-Lyrik-Wochen, wo sie "Böhmen liegt am Meer" in einer englischen Übertragung von George Rapp vortrug. Im Juli 1967 traf sie sich in London mit Erich Fried, der dieses Gedicht neu ins Englische übersetzte. 1969 besuchte Bachmann die englische Premiere der Henze-Oper "Der junge Lord", zu der sie das Libretto verfasst hatte. Und 1971 reiste sie noch ein letztes Mal nach London, zur Hochzeit ihres Bruders Heinz, Geophysiker.

Obgleich diese Besuche, mit Ausnahme des ersten 1950/51, nur jeweils wenige Tage dauerten, prägte England Leben und Werk Ingeborg Bachmanns in vielfältiger Weise. England wurde für die junge Bachmann durch Jack Hamesh und die Schwestern Aichinger zu einem geographisch verortbaren Subjekt der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Die Bilder Londons, die Nähe dieser Stadt zum Meer und der Nebel im Besonderen, wurden zu Bestandteilen ihrer Seelenlandschaft, wie das Gedicht "Abschied von England", geschrieben unter dem Eindruck ihres ersten Englandbesuches, kundtut. Der Aufenthalt bei Helga Aichinger und ihrer Tochter Ruth bedeutete für Bachmann offenkundig eine Idylle, wie sie ihr - ganz anders gestimmt - erst wieder auf Ischia bei Hans Werner Henze erlebbar wurde. Das Gedicht "Abschied von England" kündet allerdings auch schon von einem erheblichen Befremden durch die englische Alltagswirklichkeit. Dieses Befremden wurde dann bei den nachfolgenden Besuchen dominierend.

England erscheint im Todesarten-Projekt mehrmals, in "Malina" und in "Das Buch Franza", allerdings eher randständig, etwa wenn Franza unbedeutende erste Küsse der Kindheit "englische Küsse" nennt oder in "Malina" im Radio der Bericht eines Korrespondenten über die Pfund-Abwertung angekündigt wird. Das Gedicht "Böhmen liegt am Meer" von 1964, geschrieben im Blick auf Shakespeares 400. Geburtstag, entfaltet eine Utopie, die teilweise Züge Englands trägt, überwiegend in literarischer Prägung durch Shakespeare vermittelt, mit deutlicher Reverenz vor Wittgenstein, dem Bachmann 1953 einen Rundfunkessay gewidmet hat mit dem Titel "Sagbares und Unsagbares".



Böhmen

Das Böhmen-Thema wird strukturell schon vorweggenommen in Bachmanns Auseinandersetzung mit der NS-Sprachenpolitik, die sich gegen die slowenische Bevölkerung ihrer Heimat Kärnten wandte. Und es wird wirkmächtig entwickelt in ihrem Roman "Malina", in der Evozierung des "Ungargassenlandes" und im Bild des "Hauses Österreich", von dem das weibliche Ich sagt: "Ich muß gelebt haben in diesem Haus zu verschiedenen Zeiten, denn ich erinnre mich sofort, in den Gassen von Prag und im Hafen von Triest, ich träume auf böhmisch, auf windisch, auf bosnisch, ich war immer zu Hause in diesem Haus". Ein Haus, das dem Habsburgerreich in seiner größten Ausdehnung entspricht - und das im Einflußbereich des böhmischen Königs Ottokar II. schon im 13. Jahrhundert vorgeprägt wurde. Grillparzers Theaterstück "König Ottokars Glück und Ende" dürfte für Bachmanns Idee vom "Haus Österreich" von Bedeutung gewesen sein. Darauf verweist Robert Pichl in seinem Essay "Vom Vielvölkerstaat zur Europäischen Union. Die Entwicklung eines soziokulturellen Paradigmas von Franz Grillparzer über Ingeborg Bachmann bis zu Elfriede Jelinek" (Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft 3. Folge, Band 26, 2008 ).

Wir dürfen allerdings nicht vorschnell das "Böhmen" Ingeborg Bachmanns in Analogie zur Europäischen Union als ein Großgebilde verstehen. Bachmanns Grenzüberschreitung geht paradoxerweise ins Kleine. Sehr treffend haben Gilles Deleuze und Félix Guattari im Blick auf Kafka einmal von einer "kleinen Literatur" des tschechischen Kulturraumes gesprochen. Höller/Larcati sehen darin eine passende Beschreibung dessen, was Bachmann mit dem "Böhmischen" meint (Höller/Larcati 2016, S. 109). Sie rekurrieren dabei auf ein Gespräch Ingeborg Bachmanns mit Erich Fried 1967, worin Bachmann die Sprache im Gedicht "Böhmen liegt am Meer" vom "Gesamtdeutschen" unterscheidet, da dieses "im hier beschriebenen Zustand (...) eben nicht mehr nötig" sei. "Böhmen" steht für diesen "Zustand", der im Kleinen das Ganze öffnet. Höller/Lacarti beschreiben als darin aufscheinendes "Lebensmotiv" Bachmanns, "zu Hause sein im Heimatlosen und im Aneinandergrenzen" (Höller/Larcati 2016, S. 108).

Im Böhmen-Thema überschneiden sich drei thematische Gefüge, die im Schaffen Ingeborg Bachmanns durchgängig eine bedeutende Rolle spielen, das der Heimat und des Zuhauses, das der Durchlässigkeit und Überwindung von Grenzen und das der Sprachenvielfalt. "Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen./Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder." So heißt es im Gedicht "Böhmen liegt am Meer".

Lektüreempfehlung: Hans Höller/Arturo Larcati, Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Piper, 2016



Galicien

"Wo gehn wir denn hin?" - "Immer nach Hause."
                  Novalis, Heinrich von Ofterdingen


"Das Buch Franza" beginnt mit dem Kapitel "Heimkehr nach Galicien". Mit dem iberischen Galicien hat dieses Galicien, abgesehen von der Schreibung, nichts zu tun. Es handelt sich um einen fiktiven Ort im Dreiländereck Österreich-Italien-Jugoslawien, im Kärtner Gailtal, wo im realen Obervellach das bäuerliche Elternhaus von Bachmanns Vater stand. Der biographische Bezug dieser Heimat-Fiktion ist offenkundig, darüber hinaus der Bezug zum "Haus Österreich", das in Bachmanns Roman "Malina" eine strukturbildende Funktion einnimmt. Luigi Reitani hat hingewiesen auf ein Dorf mit dem Namen "Gallizien", das südöstlich von Klagenfurt liegt, und auf die Region "Galizien" des Habsburgerreiches. In "Malina" berichtet die Ich-Erzählerin dem Journalisten Mühlbauer, sie sei nach dem Krieg nach Galicien evakuiert worden, in ein Grenzdorf, "das niemand außer mir kennt", von welchem unklar gewesen sei, ob es bei Österreich bleiben oder zu Jugoslawien gezählt würde.

Im Zentrum des Werkes "Das Buch Franza" steht ein Geschwisterpaar, Franza und ihr jüngerer Bruder Martin Ranner, der etwas mit "Erdöl" zu tun habe - wie Bachmanns Bruder Heinz. Franza lebt in Wien mit einem "Fossil" zusammen, einem älteren, wohlhabenden Medizinprofessor, Leopold Jordan, der sie in eine Nervenklinik eingewiesen hat, von wo aus Franza per Telegramm einen Hilferuf an den Bruder schickt, als der gerade zu einer Reise nach Ägypten aufbrechen möchte. Der Bruder macht sich auf die Suche nach der Schwester, auf seiner Zugfahrt nach Wien geraten wir in einen Metadiskurs der Autorin, die uns der Wirklichkeit dieser Zugfahrt und Wiens und Galiciens als einer literarischen versichert. Das auch real existierende Wien und das nur fiktiv existierende Galicien werden als literarische Orte gleichwertig. "Denn die Tatsachen, die die Welt ausmachen - sie brauchen das Nichttatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden." (Todesarten-Projekt Band 2, S. 134) - und wir dürfen dies auf das literarische Wien ebenso wie auf das nur literarische Galicien beziehen. Bachmann verweist uns hier auch auf eine Stelle aus dem "Tractatus" Wittgensteins, wo es unter 1.1 heißt, "Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge."

Martin findet die Schwester schließlich im heimatlichen "Galicien". Dort erinnert sich Franza an das Kriegsende, die Befreiung Galiciens, die für sie als Jugendliche die Schwärmerei für einen englischen Offizier brachte. Der Krieg, das waren die Deutschen, die alle weg seien, wie sie dem Offizier in holprigem Englisch mitteilte. Galicien wird in der Erinnerung Franzas reduziert auf das Idyll einer ersten Liebe, einer auch politischen Unschuld, einen Sehnsuchtsort, dessen Gehalt für die Gegenwart Martin in Frage stellt, indem er die Kosenamen der Kindheit ablehnt, nur Franza nenne er weiterhin nicht Franziska, sondern Franza. Franza aber leide für ihn an der "Krankheit des Damals" (TP 2, S. 170). Die Bedeutung Galiciens als trostspendender Heimat wird von ihm allerdings immer wieder gestützt. So heißt es in einer langen Folge von Reflexionen Martins auf der Fahrt von Wien nach Galicien: "Das zerstoßene Rohr wird Er nicht brechen, und den glimmenden Docht wird Er nicht auslöschen. Nachtfahrt. Heim nach Galicien, Matth. 12, 20. Wie unwiderstehlich ist Galicien, die Liebe. Nun war er vollkommen erschöpft und schlief immer wieder ein." (TP 2, S. 149).

Als "plausible Erklärung" dafür, weshalb Martin diese biblische Stelle mit Galicien verbindet, gibt Luigi Reitani an, "dass der Heimatort der Schwester einen Schutz bietet" (Reitani 2009, S. 39) Für Reitani ist Bachmann Galicien "vor allem der Ort der Liebe der Geschwister, welche in einer symbiotischen Einheit leben" (ebd.). Man mag das für einseitig halten, doch einen relevanten Aspekt des Galicien-Mythos benennt der Autor damit gewiss.

Lektüreempfehlung: Luigi Reitani, "Heimkehr nach Galicien". Heimat im Werk Ingeborg Bachmanns, in: Barbara Agnese/Robert Pichl (Hrsg.), Topographien einer Künstlerpersönlichkeit, Würzburg 2009



Wien

Die Bedeutung Wiens für Leben und Werk Ingeborg Bachmanns kann erst nach der Publikation von Joseph McVeighs materialreicher und kluger Untersuchung "Ingeborg Bachmanns Wien" von 2016 angemessen gewürdigt werden. "Alles außer Wien ist ja unmöglich", schreibt sie am 10. Juli 1949 an Hans Weigel. Und weiter: "Wien hat mir den Urwald verleidet" - und mit "Urwald" meint sie hier die Kärntner Heimat mit ihrem ländlichen, bäuerlich geprägten Leben.

Literarisch wird Wien von Bachmann erst mit dem Roman "Malina" gewürdigt. Schon während der Wiener Studienjahre saß Bachmann allerdings an einem Roman über Wien und ihre Wiener Erfahrungen, der den Arbeitstitel "Stadt ohne Namen" trug und im Oktober 1950 weitgehend abgeschlossen war. Auf diesen Roman setzte Hans Weigel große Hoffnungen, doch die ersten Lektoren wiesen das Manuskript ab. 1952 konnte Weigel den Herold Verlag in Wien dafür gewinnen, das Manuskript anzunehmen. Der Verlag forderte allerdings eine Überarbeitung, was Bachmann ablehnte. Enttäuscht und gehässig schreibt Weigel an Herbert Eisenreich am 11. Juli 1953: "Inge Bachmann spinnt grössenwahnsinnig, hält sich für eine Dichterin mit großem D, gibt ihren Roman nicht her, setzt sich nach Italien, dort pro Jahr drei Gedichte dichten und dürfte binnen kurzem eine komische Figur werden." Allerdings muss man wissen, dass Weigel Stipendiengeber für Bachmann gewonnen hatte, die bei einer Veröffentlichung des Romans die Hälfte des Stipendiums vom Verlagshonorar zurückerhalten sollten.

Das Manuskript zu diesem Roman ist verschollen, Bachmann habe es "weggeworfen", wie sie in einem Interview mit Joachim von Bernstorff am 10. Juni 1953 erklärt. Erhalten sind davon das Erzählfragment "Anna" und die Erzählung "Der Kommandant". Die Beziehung zu Weigel hatte im Roman kaum einen Stellenwert, aus "Schamgefühl", wie Bachmann in einem Brief an Weigel vom 2. Februar 1951 schreibt, "von Dir ist nur der Hund geblieben, den ich Dir beigeben wollte, und selbst der lässt fast keine Schlüsse auf unsere Ehe zu". Bachmann fand den Roman jedoch schlecht und wollte ihn nicht gedruckt sehen, wie sie in einem Brief an Herbert Eisenreich vom 11. November 1952 erklärt.

Und es stellt sich die Frage, ob nicht erst "Malina" der Roman war, den Bachmann schon 1950 schreiben wollte aber noch nicht schreiben konnte. Das Fragment "Anna" enthält bereits wesentliche Elemente des einzigen zu Lebzeiten abgeschlossenen und veröffentlichten Romans Ingeborg Bachmanns, so insbesondere die Vaterfigur: "Ich habe mich betrogen, ich habe ihm gedient, ich habe ihm mein Blut verkauft für eine Gebärde verwerflicher Zugehörigkeit, ich bin an seiner Seite durch die Feste der Finsternis gegangen und über die Leichen ihm Verschuldeter. Ich habe ihm meine Träume verraten und die seinen dafür eingetauscht, ich verlor mich in der Stadt, die seinesgleichen war, und wo sie es nicht war, begriff ich nicht, daß sie dort zu lösen und zu verlassen war!"

Thomas Bernhard gedenkt Bachmanns in seinem Roman "Auslöschung" von 1986 in der Figur der "Maria, die Römerin sein will, gleichzeitig Wienerin". Wie sehr sie an Wien auch gelitten hat, macht erst die parallele Lektüre des Anna-Fragments und des Malina-Romans deutlich. Gelitten hat sie offenkundig auch an Weigel, insofern die Stadt "seinesgleichen war".

Lektüreempfehlung: Joseph McVeigh, Ingeborg Bachmanns Wien, Berlin: Insel-Verlag, 2016


MOTIVE


Natur

Bereits 1949 hat Bachmann sich Weigel gegenüber, in jenem Brief vom 10. Juli, in welchem sie ihre Kärntner Heimat als "Urwald" charakterisiert, von frühen Gedichten abgegrenzt, in denen Naturerfahrungen (wie auch immer real oder literarisch, etwa über Perkonig, erworben) eine strukturbildende Rolle spielen: "Auch Gedichte möcht ich wieder schreiben, aber drin soll kein Grasliches mehr vorkommen, das 'auf feuchter, fruchtbarer Erde' usw". Dabei hatte sie doch schon in einem ihrer frühen Gedichte, "Entfremdung", veröffentlicht in "Lynkeus" Heft 1 1948/49, vom "Graslichen" Abschied genommen: "für mich wird keine Wiese zum Bett", heißt es dort.

Die explizite Verachtung des Landlebens in den frühen Briefen an Hans Weigel sollten wir nicht zu wörtlich nehmen. In ihren enthusiastischen Schilderungen aus Ischia 1953 gewinnt gerade das einfache, ländliche Leben - allerdings in einer durch Fischfang geprägten Kultur, die mythologisch-religiöser Überhöhung zugänglicher ist - einen paradiesischen Schein. An Paul Celan schreibt sie zu ihrem Aufenthalt am 2. September 1953: "Ich wohne in einem alten kleinen Bauernhaus, ganz allein, in einer wilden, schönen Gegend." Als Lebensform interessiert sie Naturnähe unmittelbar nach dem Abschied von Wien durchaus (wieder), auch wenn sie Stadtmensch bleiben wird bis ans Ende ihres Lebens in einer Großstadt, Rom.

In einem Interview vom 05. November 1964 wurde Ingeborg Bachmann darauf angesprochen, dass in ihren Gedichten die häufigsten Nomen "Nacht", "Licht", "Augen", "Wind", "Land" und "Sonne" seien, die auch "Standardworte der konventionellen Naturlyrik" seien. Darauf entgegnete Bachmann: "Die Natur oder was man im Zusammenhang mit Lyrik unter Natur versteht, interessiert mich überhaupt nicht. Ich glaube nicht, daß ich zu den Gräserbewisperern gehöre - ich glaube, das ist ein Wort von Benn. Ich kann kaum drei Blumensorten auseinanderhalten." ("Wir müssen wahre Sätze finden", 1983, S. 45)

Literarisch interessierte sie Natur im Sinne von Naturlyrik nicht. Auch ihr politisches Engagement bezog sich nie auf ökologische Fragestellungen, sondern auf sozial-gesellschaftspolitische und geopolitisch-militärische. Was allerdings vor dem Zeithintergrund auch naheliegt, geprägt durch den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und den Kalten Krieg.

Bekannt ist dagegen, dass Ingeborg Bachmann sich ab 1964 intensiv mit der Möglichkeit beschäftigte, in Kärnten einen Bauernhof als Refugium zu erweben. Ende der 60er Jahre war dies so weit gediehen, dass die Familie ein konkretes Objekt vorschlagen konnte. Ist 1964 ein Bezug zur Stabilisierung durch die Beziehung mit Adolf Opel anzunehmen, so wurde die Konkretion Ende der 60er Jahre vermutlich durch die Begegnung mit Thomas Bernhard inspiriert. Aus dem Rückzug nach Kärnten wurde allerdings ebenso wenig wie aus der von ihr oft angekündigten Rückkehr nach Wien.



Wüste

"Wüste" ist ein Bild, das in Ingeborg Bachmanns Werk früh begegnet. Die Erzählung "Die Karawane und die Auferstehung" von 1949, erschienen in der "Wiener Tageszeitung", berichtet von einem Verstorbenen, der im Jenseits durch eine Wüste wandert, zunächst alleine, dann gesellen sich ein kleiner Junge, eines junges Mädchen, ein Kriegsversehrter und eine alte Frau dazu. Die "Hinwendung zur Sprache der Geologie", die Höller/Larcati für die 60er Jahre als Teil der "schriftstellerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit" (Höller/Larcati 2016, S. 80) konstatieren, kann also auf frühe Bildschöpfungen der Autorin zurückgreifen.

Ende 1964, im zweiten Jahr nach der Trennung von Max Frisch, begegnete Ingeborg Bachmann dem neun Jahre jüngeren österreichischen Dramatiker und Journalisten Adolf Opel, mit dem sie Ägypten und den Sudan (Wadi Halfa) bereiste, wo sie erstmals konkrete Erfahrungen mit der Wüste machte. Die Ägyptenreise findet ihren Niederschlag zunächst im "Wüstenbuch", Teil des Todesarten-Projektes, 1964/65 geschrieben. Dort wird die Wüste "Heilanstalt" genannt. In "Das Buch Franza", 1965/66, gleichfalls Teil des Todesarten-Projektes, flieht die Hauptfigur Franziska Ranner aus einer Psychiatrischen Klinik in Wien und folgt dann in Begleitung ihres Bruders weitgehend Bachmanns Reiseroute mit Opel. Auch Franza erwartet sich von der Wüste Heilung - "Ich bin in der Wüste, um meine Schmerzen zu verlieren."

"Ich habe immer gedacht, es gebe keine Entsprechung dafür, was ich will, aber die Wüste ist eine Entsprechung." So schreibt Ingeborg Bachmann an ihren Psychotherapeuten Helmut Schulze 1965/66 ("Male oscuro", S. 70f - Nr. 23). Dieses Bekenntnis korrespondiert mit der Rolle des Meeres im Gedicht "Böhmen liegt am Meer" und damit, wie Bachmann über Musik spricht - im übrigen auch im gleichen Brief an ihren Psychoanalytiker. Bei Shakespear, in "The Winter's Tale", liegt Böhmen als "wüstes Land" am Meer, hier verbinden sich schon einmal Meer und Wüste und Böhmen.

Nicht erst mit der Ägyptenreise wird bei Bachmann das Thema der Wüste mit dem der Liebe verbunden. In einem Brief an Paul Celan vom Sommer 1949 findet sich der Satz: "Für mich bist du Wüste und Meer." Celan hatte ihr 1948 das Gedicht "In Ägypten" gewidmet. So scheint die Ägyptenreise ein altes Programm zu erfüllen. In Franzas Ankündigung ihrer Sudan-Fahrt heißt es: "Ich fahre nach Wadi Halfa. Daran kann ich mich klammern. Denn es wird untergehen." Das alte Wadi Halfa, das Ingeborg Bachmann besuchte, liegt heute auf dem Grund des Nasser-/Nubia-Stausees. 1964 war das Jahr der ersten Umsiedelungen und Flutungen.



Augen


Augen waren für Ingeborg Bachmann zunächst ein biographisch wichtiges Thema. Sie litt an einer extremen Kurzsichtigkeit (-13 Dioptrin), die sie zu kaschieren suchte, indem sie weitgehend auf Brillen verzichtete. Kontaktlinsen vertrug sie als Raucherin schlecht, weshalb sie häufig mit erheblicher Sehbehinderung öffentlich auftrat. Dies berichtet Inge von Weidenbaum, Bekannte Bachmanns in Rom und später Mitherausgeberin der ersten Werkausgabe. Diese Kurzsichtigkeit und die starken Kontaktlinsen dürften auch einiges zur oft angesprochenen Irritation ihrer Gegenüber durch ihre Augen beigetragen haben. Hans Werner Richter schrieb dazu in "Im Etablissement der Schmetterlinge" 1986 (S. 53): "Den Ausdruck ihrer Augen kann ich nicht beschreiben. Selbst wenn ich es wollte, ich könnte es nicht. Mir fehlen die Worte dazu."

In den Gedichten Bachmanns nehmen Augen eine herausragende Funktion ein. Vermeintlich konventionell erscheinen sie im Gedicht "Anrufung des Großen Bären" (1956) als "Sternenaugen" - doch es sind dies nicht die Sternenaugen oder Augensterne der Liebeslyrik, sondern die Augen des Großen Bären. In den "Liedern auf der Flucht" begegnen uns Augen dann am Ende der Sammlung im Kontext der Liebe, allerdings - unter ein Motto Petrarcas gestellt! - subtil gewendet: "Innen sind deine Augen Fenster/auf ein Land, in dem ich in Klarheit stehe."

Vor allem aber begegnen uns Augen als Lebenssymbol, wie bei Petrarca mit der Sonne, nicht den Sternen verbunden. Anders als bei Petrarca jedoch ist die Sonne Bachmanns nicht Metaphernspender, sondern selbst das emphatisch angesprochene "Du" im Gedicht "An die Sonne". Die Sonne steht da für das "Augenlicht" im konkret optischen Sinne - und das Ich will "Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen". Doch dies geschieht erst am Ende des Gedichtes, davor werden die Wonnen des Sehens gefeiert. "Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ...".  Ein vergleichbares Preislied auf das Sehen, das Seh-Vermögen und seine erste Bedingung, die Sonne, ist in der Lyrik schwerlich zu finden. Am ehesten denken wir noch an Goethes Diktum "Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken". Eine frühe kulturgeschichtliche Parallele finden wir in der Atharvaveda, im "Hymnus an die Erde", Mantra 33: "Soweit ich dich überblicke, o Erde, mit der Sonne als Verbündetem, soweit laß mein Auge nicht fehlgehen, von Jahr zu Jahr."

In der Sammlung "Die gestundete Zeit" finden wir die Augen mit dem Wasser verbunden - und keineswegs mit Tränen, sondern mit dem dunklen Meer, als "tausendäugig", im Text "Ausfahrt" (1953):

Das dunkle Wasser, tausendäugig,
schlägt die Wimper von weisser Gischt auf,
um dich anzusehen, gross und lang,
dreissig Tage lang.


Dies ist ungewöhnlich, Augen des Meeres! Parallelen dazu gibt es in der Kulturgeschichte wenige. In der indischen Mythologie erscheint der "tausendäugige" Urmensch Purusha, gelegentlich mit einer "Urflut" verbunden. Die Bodhisattva der Barmherzigkeit und des Leidens, Guan Yin, hat tausend Arme und tausend Augen. Sie wird von den Fischern und Seeleuten verehrt und oft auf den Wellen des Meeres schwebend dargestellt. In der Malerei korrespondieren dem Bild Bachmanns einige Werke des Symbolismus, Arnold Böcklins "Im Spiel der Wellen" etwa. Bei Charles Baudelaire, dessen "Les Fleurs du Mal" Bachmann früh las und schätzte, heißt es in "L'Homme et la mer": "La mer est ton mirroir; tu contemples ton âme/Dans le déroulement infini de sa lame," und weiter "Tu l'embrasses des yeux et des bras".

Im Erzählungsband "Simultan" findet sich auch der Text "Ihr glücklichen Augen". Die Anspielung auf Johann Wolfgang Goethe ("Lynkeus der Türmer") schmerzt, denn die Heldin der Geschichte, Miranda, ist extrem kurzsichtig und empfindet dies gar als Geschenk, kann nicht verstehen, wie die anderen Menschen es ertragen, so genau und so viel zu sehen.



Geschwisterschaft

Das Geschwisterthema durchzieht die Biographie und das Werk Bachmanns. Sie hatte eine jüngere Schwester, Isolde, und einen erheblich jüngeren Bruder, Heinz. Ihr um wenige Tage jüngerer Freund Hans Werner Henze bezeichnete sie gelegentlich als seine "große Schwester", sie selbst sah die Beziehung jedoch primär als ein - zunächst auch sexuelles, dann freundschaftlich-kollegiales - Verhältnis zwischen Mann und Frau.

Der erste Text im Gedichtband "Anrufung des Großen Bären", "Das Spiel ist aus", beginnt mit den Versen "Mein lieber Bruder, wann bauen wir uns ein Floß/und fahren den Himmel hinunter?" Der "liebe Bruder" wird dann noch zweimal so genannt, im weiteren Fortgang als "du" angesprochen und schließlich in der letzten Strophe als "Liebster": "Vater und Mutter sagen, es geistert im Haus/wenn wir den Atem tauschen". Ähnliche Bilder kennen wir von Georg Trakl, literarisch bezogen auf die bisweilen geisterhaft erscheinende Figur einer "Schwester", biographisch bezogen auf seine Schwester Margarethe/Grete.

Bei Bachmann gibt es keine biographischen Hinweise auf einen Geschwisterinzest, spekuliert wird in der Forschung über einen Vaterinzest, den Bachmann selbst in "Malina" und anderen Texten zu thematisieren scheint und privat aus ihren Träumen berichtet. So in einem Brief an ihren Psychiater Helmut Schulze: "Einmal ist in fast allen Träumen M.F. (Max Frisch - H.Sch.) die Hauptperson, immer mit dem Vater verwechselt (bis auf den letzten Traum), oder der Vater, mit M.F. verwechselt, sodaß es auf Inzestträume hinausläuft und den Horror davor." ("Male oscuro", 2017, S. 44)

Eine strukturbildende Rolle spielt das Geschwisterthema auch im Franza-Fragment des Todesarten-Zyklus. Franza und ihr Bruder finden auf einer Ägypten-Reise ein stückweit das Paradies ihrer gemeinsamen Kindheit wieder, scheitern jedoch letztlich, wie die Szene deutlich macht, in der Franza sich von ihrem Bruder in Nilschlamm einpacken lässt, wovon sie sich Heilung verspricht - stattdessen jedoch fast im spröde trocknenden Sand erstickt. In der Forschung wurde hierzu vielfach auf den Isis- und Osiris-Mythos hingewiesen - den Anselm Kiefer auch in seinen monumentalen Sandbildern des Zyklus "Dein und mein Alter und das Alter der Welt" andeutet, mit Bezug auf ein Gedicht Bachmanns, "Das Spiel ist aus".



Tiere


Tiere werden in den Gedichten Ingeborg Bachmann häufig genannt. In der Sammlung "Anrufung des Großen Bären" begegnen vor allem Vögel, zum einen die Kategorie "Vogel" als Allgemeinbegriff, aber auch konkrete Vogelarten wie Rabe, Schneehuhn, Amsel, Schwalbe oder Eule. Eine wichtige Rolle spielen auch andere geflügelte Lebewesen, Bienen vor allem. Ungeflügelte Lebewesen erscheinen im generischen Plural "Vieh", im einzelnen als Fisch, Echse, Katze, Hund, Lamm, Pferd und Rappe, Fuchs, Wolf oder Bär. Oft sind diese Tiere erkennbar Teil einer ins Gedicht geholten Welterfahrung, etwa in "Lieder von einer Insel" mit den Versen "wir essen und trinken,/die mageren Katzen/streichen um unseren Tisch", auf Ischia zu beziehen, oder in "Brief in zwei Fassungen" in symbolistisch-expressionistischer Manier zu Rom evoziert: "wollüstig dehnen Katzen ihre Krallen".

Ein ganzes Hörspiel ist den titelgebenden "Zikaden" gewidmet. Hier heißt es "Denn die Zikaden sind einmal Menschen gewesen. Sie hörten auf zu essen, zu trinken und zu lieben, um immerfort singen zu können." Diese Zikaden erscheinen als Fabelwesen, die etwas über uns und unsere Wunschträume zur Sprache bringen. Auch als literarische Findungen verweisen sie uns auf ihre Herkunft aus Bachmannscher Welterfahrung. In "Lieder von einer Insel" ist mit Bezug zu Bachmanns Aufenthalt bei Henze auf Ischia zu lesen: "Wir haben Einfalt gelernt,/wir singen im Chor der Zikaden". Bachmann und Henze verbrachten auf Ischia eine bedeutsame Zeit künstlerischer Selbstgenügsamkeit, im "Domizil einer europäischen Avantgarde" (Andrea Stoll 2015, S. 136). Auf Ischia lebten damals unter anderem Vladimir Nabokov, Golo Mann und William Walton.

Das Gedicht "Anrufung des Großen Bären" nimmt nicht nur Bezug zum bekannten Sternbild, sondern speist seine Bildwelt auch aus der konkreten Tiergestalt, dem zottigen Fell etwa oder den Krallen des Bären - auch wenn diese als "Sternenkrallen" gleich wieder zurückgebunden werden auf das Sternbild. In biblisch-religiöser Anspielung wird der Bär, zugleich mit den "Lämmern", zum kosmischen Fabelwesen, das uns nicht nur von Menschlichem etwas sagt, sondern von Kosmischem. Auch im gleich anschließenden Gedicht "Mein Vogel" geht es um Ereignisse mit kosmischer Einbettung, unter "der Sterne Schutt" auf dem Haupt wird dem Ich der Vogel zum "Beistand". Die Kategorie "Fabelwesen" greift hier nun eindeutig zu eng. Bachmanns Tiere sind, nicht nur als "Bär" und "Vogel", auch Totems, Schutzwesen, Begleiter des Menschen in einem existentiellen Sinne.



Sterne und Sternbilder

Schon der Sammlungstitel "Anrufung des Großen Bären" legt nahe, dass Bachmann ein besonderes Verhältnis zu Sternen und Sternbildern hatte. Auch wenn im titelgebenden Gedicht "Anrufung des Großen Bären" vor allem die Tiergestalt konkretisiert wird, geht es um kosmische Ereignisse in diesem Gedicht, um Schöpfung und Sündenfall. In der gleichen Sammlung begegnen uns im Gedicht "Von einem Land, einem Fluß und den Seen" die "Wölfe mit den Fixsternblicken". Und das "Er" - einer, "der das Fürchten lernen wollte" - dieses Gedichtes wird in einer "Welle" gleichsam neu geboren, die seine "Wiege" schwinge, "in die sein Sternbild durch die Schleier sah". Bei Trakl heißt es "Nachts blieb er mit seinem Stern allein" ("Kaspar Hauser Lied").

Astrologie war allerdings kein Anliegen der Wittgenstein-Verehrerin Bachmann. Sterne und Sternbilder sind in ihren Gedichten als Gehalte der literarisch-kulturellen Tradition präsent, nicht als Ausweis einer biographischen Astrologie-Beziehung. Ein Teil der Sammlung "Anrufung des Großen Bären" ist unter ein Motto aus dem "Trionfo d'Amore" Petrarcas gestellt. Die von Bachmann zitierte Stelle (Zeile 148ff) wird bei Petrarca vorbereitet von "Sternen" - in Zeile 133 des "Trionfo d'Amore" finden wir: "E veramente è fra le stelle un sole" und in Zeile 146: "o stella iniqua". "Stelle" und der Singular "stella" begegnen im "Trionfo d'Amore" und in Petrarcas Canzoniere gehäuft, als Bild für die Augen Lauras, als Licht-Element der Schöpfung und schließlich im Sinne der Renaissance-Astrologie als Einflussgrößen für das allgemeine und das individuelle Schicksal.

In "Prag Jänner 64" ist die Reden von den "Schattenjahre(n), in denen kein Stern/mir in den Mund hing". Das Bild der "Schattenjahre" kennen wir aus Stefan Zweigs Trilogie "Die Heilung durch den Geist" (1931). Der Bildkomplex insgesamt könnte verweisen auf Franz Grillparzers Drama "Ein Bruderzwist in Habsburg", in welchem Matthias I. seinen Bruder Rudolf II. auf dem Hradschin (der im Gedicht "Prag Jänner 64" genannt wird) entmachtet. Rudolf II. bezeichnet sich bei Grillparzer im Dialog mit seinem Neffen Erzherzog Ferdinand als "Wächter auf dem Turm bei Nacht", der seine "hellen Sterne" erwarte und "das verständ'ge Augenwinken/Mit dem sie stehn um ihres Meisters Thron" belausche. In Bachmanns Gedicht gegen Aufrüstung und Militarismus, "Alle Tage", von 1957 heißt es: "Die Uniform des Tages ist die Geduld,?/die Auszeichnung der armselige Stern?/der Hoffnung über dem Herzen."



Grenzen

Grenzen und Grenzüberschreitungen sind Themen, die Bachmanns Leben ebenso durchziehen wie ihr Werk. In ihrer Lebenspraxis hat sie als rauchende und öffentlich Alkohol trinkende Frau die Grenzen der "Schicklichkeit", die in Wien engere waren als in Berlin und Paris damals, früh überschritten. Auch ihre politischen Aktivitäten und ihr Sexualleben entsprachen nicht den Rollenerwartungen der Zeit an eine Frau ihres Standes. Der "väterliche Freund" Hans Weigel hat ihr in Wien gerne Seidenstrümpfe und teure Täschchen geschenkt und sie dann nach dem Wegzug aus Wien gerügt wegen ihrer politischen Einmischungen in der BRD, die sie sich "als Dame" doch nicht erlauben solle.

Über Grenzen im Werk Ingeborg Bachmanns, geographische wie auch psychische, Grenzen zwischen Staaten und Grenzen der Erfahrung und der Erkenntnis, Grenzen der Sprache und Grenzen des Erlebens wurde in der Forschung bereits kaum mehr Überschaubares geschrieben. Dabei wird gerne eine Stelle aus der Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar" von 1959 zitiert: "Denn bei allem, was wir tun, denken und fühlen, möchten wir manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind." Robert Pichl schreibt in "Flucht, Grenzüberschreitung, Landnahme als Schlüsselmotive in Ingeborg Bachmanns später Prosa" von einem "unterdrückten Existenzideal", das den "Gegenwartsmenschen" in die Suche nach dem "Land seiner Seele" treibe. Die drei von ihm genannten "Schlüsselmotive" erscheinen im epischen Spätwerk der Autorin in einem "typischen Verhaltensmuster", "nach dem die weiblichen Hauptfiguren ihre individuellen Existenzansprüche durchzusetzen suchen" (Robert Pichl in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Jg. XVI, 1985, S. 221).

Im Erzählungsband "Simultan" sind die durchweg weiblichen Hauptpersonen eingebunden in rigide berufliche und/oder familiäre Rollenstrukturen. Alle fünf, die Simultanübersetzerin Nadja, die träge Beatrix, Miranda mit der extremen Kurzsichtigkeit, die einsame Frau Jordan und die in Heimatgefilden wandernde Starphotographin Elisabeth Matrei, verlassen ihren privaten und beruflichen Kontext durch einen konkreten Ortswechsel sowie durch einen Umsturz ihrer Lebensverhältnisse und Lebensgewohnheiten.

Lektüreempfehlung: Robert Pichl, Flucht, Grenzüberschreitung und Landnahme als Schlüsselmotive in Ingeborg Bachmanns später Prosa, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Jg. XVI, 1985



Reisen *

Seit 2020 ist Leitthema der Literatur im gymnasialen Deutschunterricht Baden-Württemberg „Reiselyrik vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart". Und dazu werden auch Teile der Lyrik Ingeborg Bachmanns gezählt.

Die Reisen der Autorin waren in der Regel mit konkreten Anlässen verbunden, als Reisen zu Freunden oder zur Familie, oder von Anderen initiiert (so die Pragreise und die Ägyptenreise durch Adolf Opel). Ihre erste Auslandsreise führte Bachmann 1950 nach Paris, wohin Paul Celan 1948 umgesiedelt war. 1951 und 1952 folgten zwei weitere Reisen nach Paris zu Celan. 1955 und 1956 war sie ohne Wissen Celans zu kürzeren Aufenthalten in Paris. Dezember 1950 bis Februar 1951 besuchte Bachman die Freundin Helga Aichinger in London. Weitere, kürzere Englandreisen folgten 1964, 1969 und 1971. Im September 1952 fuhr sie mit der Schwester nach Italien, brach die Reise aber vorzeitig ab. Von August bis Oktober 1953 lebte sie bei Hans Werner Henze in Forio d'Ischia/Italien. 1961 reist sie mit Max Frisch nach Rom. 1955 absolvierte sie einen Studienaufenthalt in den USA als Stipendiatin des "International Seminars" an der Harvard University. 1964 reiste sie im Januar mit Adolf Opel nach Prag. Im darauf folgenden Sommer unternahm sie mit Opel eine längere Ägypten-Reise.

Von den Reisen teilweise nicht klar zu trennen sind die Wohnaufenthalte im Ausland. So folgte zunächst dem Aufenthalt bei Henze auf Ischia von Oktober 1953 bis Ende 1955 die erste eigene Wohnung in Rom. Von Anfang 1956 bis August 1956 lebte sie mit Henze in einer gemeinsamen Wohnung in Neapel. Januar bis September 1957 bezieht sie wieder eine eigene Wohnung in Rom. Im Herbst 1957 zieht Bachmann zu Max Frisch nach Zürich, bis zur Trennung 1962. Von 1965 bis zu ihrem Tod 1973 lebt sie erneut in Rom.

Drei Paris-Gedichte ("Paris", "Die Brücken", "Hôtel de la Paix"), die Prag-Gedichte ("Prag Jänner 64", "Enigma", "Böhmen liegt am Meer", "Wenzelsplatz", "Jüdischer Friedhof", "Poliklinik Prag", "Heimkehr über Prag") und die "Lieder von einer Insel" (bezogen auf Ischia) sind die bekanntesten lyrische Niederschläge ihrer Reisen. Bedeutsame Prosatexte gibt es vor allem als Folgen ihrer Rom-Erfahrungen (Das dreißigste Jahr, Was ich in Rom sah und hörte, Ferragosto) und ihrer Ägypten-Reise (Das Buch Franza).

Lektüreempfehlungen:
Irene Fußl/Arturo Larcati, Das Rom der Ingeborg Bachmann, 2015
Hans Höller/Arturo Larcati, Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Piper 2016



Rettung

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.

                       Hölderlin, Patmos


Das Werk Ingeborg Bachmanns wird in seinen Bildern dominiert von Unbehagen, Katastrophen, Scheitern, Tod. In einem unveröffentlichten frühen Gedicht ("Hinter der Wand") heißt es "Ich bin das Immerzu-ans-Sterben-Denken". Bachmanns Helden und Heldinnen leiden an der "Krankheit zum Tode" (Kierkegaard), sind unbehaust, heimatlos, suchend, irrend. Und am Ende ihrer Erzählungen und Romane werden sie meist getötet oder verschwinden. Viele Bachmannsche Figuren enden in Schweigen, wie "Malina", wo die Erzählerin in einer Mauer verschwindet von der es heißt, dass aus ihr "nie mehr etwas laut werden kann", wie "Der gute Gott von Manhatten" oder das Paar in der Erzählung "Simultan". Manche Geschichten münden in alles negierende Dunkelheit, wie "Das Buch Franza", wo am Ende der edierten Fassung zu lesen ist: "Die ägyptische Finsternis, das muß einer ihr lassen, ist vollkommen."

Doch oft bleibt zum Schluss auch ein Rätsel, eine unbestimmte Hoffnung, eine Spur, eine Verheißung. Die Erzählung "Das dreißigste Jahr" bedenkt seine Figur mit der Erkenntnis "Ich lebe ja!". Und im letzten Satz des Textes sagt dieses "Ich" zu sich selbst: "Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen." Unverkennbar ist der biblische Anklang. Doch hier kommt kein "Heiland", hier steht, der Existenzialismus lässt grüßen: Heilung, Erlösung kann dir nur von dir selbst kommen.

Im Gedicht "Nach dieser Sintflut" (1957) ist es zwar in der ersten Strophe "die Taube,/und nichts als die Taube" was das Ich gerettet sehen möchte nach der Flut. Doch in der zweiten Strophe bringt diese Taube, sollte sie gerettet sein, dem Ich "in letzter Stunde das Blatt". Die Einheit von formaler und inhaltlicher Unerbittlichkeit dieses zweistrophigen Textes hat in der deutschsprachigen Lyrik eine Parallele nur in Hölderlins Gedicht "Hälfte des Lebens". Beiden Texten ist auch bedeutungsvoll gemeinsam, dass die Scheide zwischen den beiden zeitlich durch ein Davor und ein Danach bestimmten Bereichen Wasser ist, bei Hölderlin ein See, bei Bachmann das Meer. Doch wo bei Hölderlin am Ende die Sprachlosigkeit steht, wird bei Bachmann "ein Blatt" gebracht. Biblisch handelt es sich um ein Olivenblatt bzw. einen Olivenzweig, bei Bachmann könnte es ein - beschriebenes oder unbeschriebenes - Blatt Papier sein.

Ist dies ein Verweis auf die Existenz als Schriftstellerin? Oder dürfen wir hier an das Volkslied "Kommt ein Vogel geflogen" denken? Mit dem Gruß von der Mutter? Das mag abwegig scheinen, könnte aber auch ein Wink zum Verständnis sein. Hier zeigt sich als Desiderat der Bachmann-Forschung die Klärung der Beziehung zur Mutter Olga (1901-1998). Beschäftigt hat sich die Forschung bislang intensiver lediglich mit der Rolle des Vaters. Die Autorin selbst, aber auch ihre Familie, haben hier Aufschluss systematisch erschwert.





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